Menschen sind sich ähnlicher, als ihnen 2019 lieb ist. Dennoch oder gerade deswegen versuchen viele krampfhaft, ihre Individualität zur Schau zu stellen. Was nur noch mehr zeigt, wie gleich alle sind. Ist das nun schlimm oder nicht? Und warum befeuert ein missverstandener Drang nach Individualität ein krankes Konsumverhalten?
(Diesen Artikel hätte ich euch fast unterschlagen: Er entstand 2019, als ich anstelle auf auxkvisit.de einmal auf Medium publiziert habe. Nun erscheint er auch hier – mit einigen kleinen Überarbeitungen.)
Menschen sind einander ähnlicher, als sie es sich in Zeiten des Hyperindividualismus eingestehen wollen. Das merkt man spätestens daran, wenn man sich die Instagram-Feeds der ach so einzigartigen, einflussreichen Influencer ansieht: Das weiße Shirt mit dem riesigen Levis-Emblem, darunter die Highwaist-Jeans-Shorts inklusive apfelrund trainiertem, rieeeesigem Hintern, weil das 2019 die einzig akzeptable Poform ist. Die angesagte Influencerin wohnt natürlich im Skandi-Chic: Ein omnipräsenter Weiß-Grau-dezent-naturfarbiger Minimalismus mit vielen Pflanzen und wenigen Messing-Objekten in Polygonform. Gekauft für Einsfuffzich, made in China – aber wenn der Laden einen skandinavisch klingenden Namen hat, wird das schon passen! Natürlich hat man ohne Plastik-Beutel eingekauft, denn man lebt ja #zerowaste. Das muss genau so sein wie das selbst angerührte Deo #lovemyself #organic #bio.
Die Widersprüchlichkeit an sich widerspricht dem Menschsein ganz und gar nicht
Der Mensch ist nicht nur eine Anhäufung lustig geformter Organe und mal mehr oder weniger Fett, Bindegewebe und Muskeln unter einem Hautgespann, sondern er trägt einen Haufen gegensätzlicher Eigenschaften in sich. Und Launen: Mal ist er schüchtern, mal forsch. Mal aktiv wie ein Duracellhäschen auf Speed, und dann wieder so faul, dass man meinen könnte, jemand hätte die Pausetaste gefunden und betätigt. Mal Party machen und dann wieder Serien bingen – kennt doch jeder! Wie sagte Goethe schon so schön in seinem Faust: „Zwei Seelen, wohnen, ach, in meiner Brust!“ Es entspricht dem Rhythmus in der Natur in dynamischer Vereingung der ewigen Gegensätze. Von daher ist widersprüchliches Verhalten total normal und ok. Und total nicht-individuell. Ich schweife ab.
In unserem Verhalten sind wir Menschen uns so unähnlich nicht. Nicht mal in unseren Wünschen.
Uns eint der Wunsch nach Aufmerksamkeit
Ein bisschen Kopfkraulen da, ein paar liebe Worte dort. Sowas tut dem lieben Ego eben gut. Und weil die meisten ohnehin so mit sich selbst beschäftigt sind, ist es nur verständlich, dass sie ihre Individualität auch offensiv zur Schau zu stellen. Irgendwo muss man sich seine soziale Interaktion ja abholen – auch wenn drölfzigtrillionen Likes keine echte Umarmung nachahmen können.
Und so schreien die meisten digitalen Selbstdarsteller mehr oder weniger offensichtlich: „Bitte, oh bitte, beachte mich! Hab mich lieb! Ich tue auch alles dafür.“ Was muss man dafür also nun machen? Levis-Shirt nachkaufen, den Einkaufskorb mit öko-Chic-made-in-China nachkaufen, den Popo trainieren und das alles posten, posten, posten.
Wer jetzt meint, ich meckere nur ohne jegliche Selbstreflektion:
Nur Kontra geben ist auch nicht viel besser
Wer das aufmerksamkeitsheischende Geposte der Ach-So-Individuellen kritisch vom Rand aus beobachtet, muss zwangsläufig zynisch werden. Oder irre. Die Beobachtung des merkwürdigen Verhaltens konsumbereiter Individualisten zu jeder Tageszeit (erinnerst du dich?) könnte einem glatt den Glauben an das Gute rauben. Wie kann man nur einen auf nachhaltig machen und so viel konsumieren? Ist es so sinnvoll, einen auf „Ich kaufe jetzt nur noch Naturkosmetik!“ zu machen und einen Post zu veröffentlichen, in dem man stolz dreiviertelt-volle Kosmetiksachen in die Tonne kloppt?
Die Kritik allein macht den Kritiker aber auch nicht besser. Denn zusammen mit ihm stehen viele stille und still verzweifelnde andere am Rand. So viele, dass sie locker Händchen halten könnten, lösten sie die kritisch vor der Brust verschränkten Arme. Spürst Du mein lauwarmes Händchen? Wir sind auch nicht so viel individueller, nur das Kollektiv auf der anderen Seite. Das kritisch herummeckert. Auch nicht so schön!
Viel Aufwand für etwas, das eh schon da ist
Es gibt also zwei Gruppen: Die, die den Wirbel mitmachen, und die, die sich weigern. Vorstellbare Abweichungen dieser dualistischen Norm sind: Eremiten, beneidens-/bemitleidenswerte Ignoranten und Erleuchtete, die bereits in anderen Sphären unterwegs sind, zu denen die WLAN-Frequenz nicht mehr funken kann.
Sich rein übers Äußere als Individuum darzustellen ist also schwierig: Auch wenn wir aaaaaalles kaufen können, um uns möglichst supergeil darzustellen, gibt es immer irgendwo einen, der das gleiche Ding oder eine verblüffend ähnliche Frisur hat. Gleiches gilt für die, die genau das eben nicht tun. Es ist eine Gruppendynamik in die eine oder andere Richtung.
Geht Individualität nicht anders?
Übers Innere könnte schon eher klappen, sich als Individuum darzustellen. Das ist aber deutlich schwieriger: Wer hat schon die Zeit, um sich darauf wirklich einzulassen? Wer liest bei Tinder den Profil-Text, anstatt nur die Bilder anzuschauen? Wer spricht mit mir noch, wenn ich deutlich gemacht habe, dass ich nicht gendere? Puuuuh! Wie soll jemand da jemand meine einzigartige, wunderbare Individalität erkennen? 😭
Der Witz dabei ist:
Jeder per se einzigartig.
Einfach schon dadurch, dass er existiert.
Punkt, aus, feddich!
Jeder von uns ist ein phantastischer, genetisch einzigartiger Mix. Und hat eine Vergangenheit, die nur er gehabt hat. Somit ist jeder Mensch ein eigenständig gewebtes Netz aus Erfahrungen, ja ein einzigartiges Wunder auf zwei Beinen. Das ist gewaltig. Gewaltig viel, aber darüber groß geredet wird für meinen Geschmack immer noch zu wenig. Immer wieder wird verzweifelt versucht, sich übers MACHEN zu behaupten. Weil, äh, also ja, weil man das eben so macht.
Stattdessen einfach sein
Der Mensch muss also überhaupt kein großes Bohei um seine Individualität machen. Anstatt zu zeigen, wie mega-individuell man ist, könnte man es einfach sein lassen. Und stattdessen einfach SEIN. Jaaa, ich weiß, das ist vielen zu wenig! „Man muss dafür doch etwas tun!“ Wer sagt das?
Einfach nur SEIN bringt natürlich weniger Likes. Aber auch weniger Stress. In der gewonnenen Zeit könnte man ein bisschen in sich selbst hineinhorchen und nachspüren, in welchen Momenten man sich am meisten nach man selbst anfühlt — oder ein Gespräch mit einem anderen Einzigartigen suchen. Vielleicht hört man Verbindendes heraus. Oder Unterschiedliches. Das ist in so einem Moment egal, weil es beim aufrichtigen Lauschen nicht darum geht, sich als irgendetwas darzustellen. Sondern um beim anderen zu sein und gleichzeitig bei sich selbst. Herzverbindung nennt man das auch.
Und dann lauscht man und hört vielleicht sogar heraus, warum der andere ist, wie er ist. Und lernt ihn deswegen zu schätzen. Das schlägt jedes Like um Längen. Wenn man das jetzt noch als ein Kompliment zum Ausdruck bringt — das wäre ja mal wirklich etwas Einzigartiges!
Photo: Katie McNabb / Unsplash