Nach auf dem Tag genau vier Monaten im Homeoffice/Lockdown war es gestern soweit: Ich wollte das erste Mal wieder in die Augsburger Innenstadt. Für den Sommer, sofern man diesen wärmeren April als solchen bezeichnen will, brauche ich nämlich einen Sommerhut und eine -hose. Wer will sich schon ständig den Schädel verbrennen oder alle fünf Minuten von Jeans in Shorts und wieder zurück wechseln?
Warum so ein simpler Shopping-Ausflug einen Artikel hier wert ist? Weil mir der Ausflug in die Innenstadt gezeigt hat, wie irre und gleichzeitig schön die Innenstadt ist. Eben wie das Wunderland.

Miriam im Wunderland –
pardon, in der Augsburger Innenstadt
„Es ist Zeit! Es ist mal wieder Zeit!“, brüllt das weiße Kaninchen und patscht unwirsch mit der Pfote auf meinen Hitzkopf. Normalerweise bewahre ich einen halbwegs kühlen, aber spätestens nach fünf Minuten auf meinem Südbalkon ist es schnell vorbei damit. Der Schatten vom Sonnenschirm kommt einfach nicht überall hin.
Gute Idee, denke ich mir, und laufe dem weißen Kaninchen hinterher. Einen Hut, den probiert man eh besser live, anstatt zu bestellen. So viele Hüte, wie ich immer probiere, hätte ich am Schluss einen vierstündigen Stau auf der Autobahn zu verantworten, weil alles mit DHL-Wägen verstopft ist. (Und das wäre noch das kleinere Übel: Richtig schlimm wird es beim Thema „ständig verstopfte Papiertonnen“ seit Corona. Ich schweife ab.)
Vom Kaninchen ist nur noch die kuschelige Blume zu sehen, als ich endlich in der Augsburger Innenstadt ankomme. Oh, alles voller Ringelspiele hier! Weil der Plärrer dieses Jahr ausfällt, stehen ein paar Fahrgeschäfte in der Innenstadt herum (die Augsburger Allgemeine berichtet). Ob man das jetzt wunderbar oder sonderbar finden soll, überlasse ich an dieser Stelle dir.
Kapitel 1: „Zu groß! Zu klein!“ – das Größendilemma zu Beginn
Wenn man einen Hut will, hat man in der Augsburger City viele, viele Anlaufstellen: Zum einen in den bekannten Ladenketten, zum anderen gibt es auch einiges an geschichtsträchtiger Hutmanufaktur. Um unsere Local Heroes zu unterstützen, ging ich schnurstracks in die Steingasse zu Neubarth. Und noch schneller von der Frauen- in die Herrenabteilung. Etwas schicht-schönes in eher markanter Form gibt es anscheinend nur für die.
Wenn man in einem Wunderland mit drölfzigmillionen Hüten steht, ist man erleichtert, wenn einem ein Hutverkäufer hilft. Gefühlt ebensoviele Minuten zeigte er mir geduldig ein Modell nach dem anderen. Vom klassischen Fedora, bei dem mich das Kontrastband störte, rotierten wir einmal durch den Laden zu den Fedoras zurück. Und ich immer so:

„Zu groß.“
„… zu klein.“
„… zu dunkel.“
„… zu verspielt.“
„… zu viel Kontrastband.“
„Zu … “ (hier bitte einmal Naserümpfen vorstellen, das man gottseidank unter der Maske nicht sieht.)
Langsam werde ich mir mit meinen tausend Wünschen selbst unangenehm und bin kurz davor aufzugeben, als der Verkäufer geistesblitzartig den Finger hebt: „Ich weiß da noch was! Das ist ein schlichter Gartenhut, aber schauen Sie mal …“ Sekunden später schaue ich in einen Wunderspiegel. Das Ding auf meinem Kopf sitzt sehr, sehr angenehm. Ich bin zu 92,8% überzeugt und lasse den Hut erst einmal zurücklegen. Im Wunderland gibt es ja noch ein paar Hutmacher mehr. Leider, wie ich eine halbe Stunde danach wohl sagen möchte …
Kapitel 2: Vom Keks naschen hilft immer!
Nur eineinhalb mal ums Eck gebogen, und ich finde mich vor dem wunderbaren Keks-Laden. Dem Laden, in dem es viele hübsche Dinge gibt, die es einem schwer machen, sich für irgendwas zu entscheiden. Die Produkte sind von regionalen Designern und Künstlern. Wenn man ein individuelles Geschenk sucht oder sich selbst eine Freude machen will, schaut der schlaue Auxburger erst mal da vorbei.
Denn das habe ich dem weißen Kaninchen verheimlicht: Auf dem Weg von Hut zu Hose wollte ich da einen Abstecher dorthin für die neuen Wachstücher (= nachhaltige Frischhaltefolien) machen. Und zu Basic. Denn so schön mein geliebter Stadtteil Pfersee auch ist – nachhaltig-bio-regional-fair-blup gibt es da eben nicht in der Menge wie in der Innenstadt.
Nach einem kurzen Plausch mit Ladenbesitzerin Patricia denke ich mir: Einfach mal so mit netten Menschen jenseits von Kollegen, Nachbarn und Freunden plaudern, das hat mir echt gefehlt. In meiner Hood bin ich in all der Zeit immer nur zum Edeka und schnell wieder raus.

Kapitel 3: Die Grinsekatze
Auf dem Weg zu Hutladen Nummer zwei komme ich bei Suslet vorbei. Und verlasse den Laden nur wenige Minuten später, breit grinsend wie die Grinsekatze: Wieder ein netter Plausch mit der Verkäuferin! Und ich habe genau gefunden, was ich gesucht habe: eine luftige, fließende, schwarze Sommerhose aus Lyocell. Gut, dass ich lange Lederbändel aus Rhabarber an der Hose haben wollte, wusste ich vorher nicht. Aber eben auch nur, weil ich nicht wusste, dass es sowas überhaupt gibt.

Aber man soll ja immer offen bleiben für Neues, noch Besseres. Und soll sich nie davon abhalten lassen, wenn es eigentlich die falsche Größe ist. Das weißt du erst, wenn du probierst.
Wenn man zu genau weiß, was man will,
miriam von auxkvisit.de
verpasst man vielleicht etwas Besseres.
Unglücklicherweise kann ich mich nicht so einfach unsichtbar machen wie die Grinsekatze.
Kapitel 4: Dideldum und Dideldei
(Ein bisschen Catcalling geht immer …)
Vom Suslet Richtung Hutladen Nummer zwei gibt es mal breitere, mal schmälere Gehsteige. An einem der besonders schmalen balanciere ich an zwei Teenagerjungs vorbei. Sie könnten 14 sein, 16 oder auch 21. Natürlich beanspruchen die zwei den meisten Platz für sich. Den Kopf drehe ich schnell ostentativ weg – Corona und so. Corona ist eine wunderbare Ausrede dafür, Augenkontakt zu vermeiden, wenn man keinen Wert darauf legt. Als uns wenige Schritte trennen, hörte den einen raunen: „Schöne Alllde!“ Und den anderen: „Ja!“ Oh Augsburger Innenstadt, wie hab ich dich und deine Jungs vermisst …

Kapitel 5: Die verrückte Hutmacherin
Derzeit weiß man ja nicht genau, welche Regeln in welchem Laden gelten. In dem kleinen Hutladen Nummer zwei bleibe ich erst einmal in der Tür stehen, um die Lage auszuchecken. Eine ältere Verkäuferin steht mitten im Raum.
„KMMMSRRR!“, ruft sie in meine Richtung.
Ich schaue verwirrt. Wo bin ich hier gelandet?
„KMNSRRRRR!!!“
Sie bedeutet mir mit einer herrischen Handbewegung, ich solle hineinkommen. Der Königin muss man gehorrrrrchen, also betrete ich vorsichtig ihren Palast, ohne eine Ahnung zu haben, wie wir zwei jetzt kommunizieren sollen. Als ich auf sie zugehe, wird mir klar: Das ist eine klassische Augschhhhburgerin! Sie hat wohl „Kommen Sie rein“ gemeint. Die Schwaben sind eben sparsam, auch mit Vokalen.

„Ich habe Sie nicht verstanden“, erkläre ich ihr, gewillt, das Eis zu brechen. Come on, ich lebe nun lang genug in Augsburg, dass sie zur mir ja wohl auch nett sein kann, auch wenn wir eine Sprachbarriere zu überwinden haben.
„Was?“, herrscht sie mich an.
„Ich habe Sie akustisch nicht verstanden!“
„I verschdanda Sie net!“, meint die Ur-Augsburgerin. Sie spricht jetzt etwas langsamer und schmeißt gar verschwenderisch mit Vokalen um sich. Anders kann man mit Idioten wie mir halt schlecht reden.
Weil die Frau wie ein Wachhund vor dem Sortiment steht und mich misstrauisch beäugt, fange ich an aufzuzählen, was ich suche. Irgendwie müssen wir ja vorankommen: „Ich suche etwas Schlichtes, eher einen Männerhut …“
Die Alte seufzt laut auf und wiederholt, dass sie mich nicht versteht. Am Satzende piekst sie mit ihrem Finger in Richtung meiner Maske und meint: „Nehmen Sie das Ding da ab!“. In ihrem tiefstem Augschburgerisch klingt das eher so: „Nehmme’s’es oooh!“ Ich schüttle den Kopf.
Sie geht in den Nebenraum, vielleicht, damit ich mich in Ruhe umsehen kann. Vielleicht aber auch, damit sie in Ruhe die Scheibenwischerbewegung machen kann: Als ich ihr hinterhersehe, fällt mir eine verdächtige Handbewegung auf Gesichtshöhe auf. Womöglich hat sie auch nur eine ondulierte Locke gerichtet. Aber egal, ich bin jetzt auf 180: „Auf Wie-der-seeee-henn!“ artikuliere ich übertrieben deutlich und vor allem viel zu laut. Verlasse den Laden und schnaufe entrüstet auf. Die alt-ehrwürdigen Ur-Augsburger, die ZGGGRRRRRoasten wie mir blöde kommen, wie oft habe ich es erlebt – aber so blöd noch nie!
Einen Laden weiter finde ich zwar keinen Hut, aber entdecke hinter der Kasse eine liebe Bekannte. Wir philosophieren ein bisschen über Corona, die verrückte Hutmacherin und das Leben. Ich spüre wieder den Boden unter den Füßen und beschließe, auf eben diesem ganz schnell zurück zu Neubarth zu laufen und den zurückgelegten Hut zu kaufen. Lieber den als keinen. Wer weiß, wann ich wieder in der Stadt bin.
O du verrücktes Wunderland!
Mit dem eigentlich ja doch recht wunderbaren Hut schlendere ich die letzte Runde durch die Augsburger Innenstadt. In einer Hand habe ich ein Eis von Santin – der ist nach wie vor einer der besten Eismacher in Augsburg. Auf jeden Fall ist er der beste Waffelmacher.
Endlich sehe ich auch einmal die Lampions in der Annastraße. Und verdränge das Baustellenloch, das mich laut angähnt von der Stelle, wo sich früher meine Lieblings-H&M-Filiale befand. Vorbei geht es an mal stärker, mal kaum frequentierten Fahrgeschäften. Die Menschenmengen überall stressen mich, ständig muss ich übertrieben beschleunigen oder abbremsen, um so etwas wie Mindestabstand einhalten zu können. Es ist für einen Noch-Nicht-Ferien-Nachmittag verdammt voll. Die Geräuschkulisse und Gerüche strengen ebenso an. Das soll das früher so geliebte Wunderland sein? War das immer so stressig? Oder bin ich echt allld geworden? War es mir immer zu stressig, aber ich habe es nur nie gemerkt, weil es eben Dauerzustand und eben „normal“ war?

Mit tausend Gedanken im Kopf , schönen neuen Sachen auf demselben und im Rucksack fahre ich in der unklimatisierten Tram nach Hause. So ein bisschen Sauna tut nach all dem Stress richtig gut. Als die Tram die Augsburger Innenstadt hinter sich gelassen hat und das Graffito „Hood 57“ durch die Kondenstropfen an den Innenseiten der Tramfenster undeutlich, aber unbeirrbar zu erkennen ist, macht mein Herz einen Hüpfer. Ich bin kurz davor, eines auf die schwitzenden Fensterscheiben zu malen. Endlich wieder daheim! In meinem Wunderland. In Pfersee. Ich werde dem weißen Kaninchen natürlich auch in Zukunft gerne ab und zu in die Augsburger Innenstadt nachlaufen – aber zukünftig nur noch wohl behütet.
Und jetzt bist du dran!
Wie geht es dir seit den Lockerungen? Gehst du wieder deinem gewohnten Alltag nach und empfindest ihn wie früher? Lass es mich gerne wissen – hier in den Kommentaren oder auf Insta oder Twitter. Da wird es vielleicht auch mal das eine oder andere Bild von den neuen Sachen geben. Ich will hier nicht einen auf Fashionblogger machen, weil ich das deutlich-weniger-Konsumieren seit dem Lockdown extrem angenehm finde.
Sämtliche Namensnennungen von Läden, Eisdielen, Marken etc. dienen nur zur redaktionellen Unterstützung dieses Beitrags, damit ich vollständig berichten kann. Die Links sind nur gesetzt, damit es du als Leser eine Spur bequemer hast, wenn du mehr dazu wissen willst. Ich verdiene damit kein Geld.