Neurodivergenz ist der neuste heiße Scheiß! Wenn es ein Begriff in eine Dating-App wie Bumble* schafft, dauert es vermutlich nur noch wenige Wochen, bis sogar ein handgelettertes Allgäuer Käseblättchen darüber schreibt. #NoOffend in koine Richtung: Auxkvisit hat höchsten Respekt vor dem Allgäu, vor Dating-Apps und vor Neurodivergenz itself. Ja, es ist keinesfalls auszuschließen, dass die Herausgeberin selbst in irgendeine Ecke dieses Spektrums fällt. „Ich bin mir recht sicher, Sie sind hochsensibel!“, hat ihr ein angesehener Mediziner auf den Kopf zugesagt. Weniger freundlich zehn Jahre vorher ein Vertretungs-Augenarzt, seines Zeichen Modell grobschlächtiger Metzger: „Sie sind ein grundnervöser Typ, das sieht man doch!“ Und ein Exfreund ähnlich charmant: „Kann es sein, dass du n‘ Asperger hast?“ Ja, was denn nun: Asperger oder Hochsensibel? Oder doch etwas anderes?
– Der obligatorische Disclaimer vorab –
Weder erhebt Auxkvisit Anspruch auf Vollständigkeit, was bei diesem hochkomplexem Thema in nur einem Artikel ohnehin nicht geht.
Noch dazu kann Auxkvisit keine medizinische Beratung oder Beurteilung aussprechen – geht ja auch gar nicht. Denn das hier ist nur ein subjektiver, persönlicher Erfahrungs- und Erlebnisbericht, unterfüttert von etwas entsprechender Literatur am Ende.
Asperger oder Hochsensibel?
„Kann es sein, dass du n‘ Asperger hast?“, fragt mich also mein damaliger Freund. Wir spazieren gerade durch Köln, seine Heimatstadt. Spazieren kann man es kaum nennen, so oft, wie ich stehen bleibe: Denn ständig muss ich was knippsen. „Du siehst so viele Dinge!“, untermauert er seine These. „Was ist daran aspergerisch? Details zu sehen, ist mein Job!“, gebe ich zurück. Zugegeben etwas entrüstet: Denn Asperger, das klingt für mich nach Rainman, nach komisch, nach krank.

Einige Wochen später diskutieren wir schon wieder, diesmal in meiner Küche. Entnervt entgegne ich, dass ich all das, was er kritisiert, selbst als Hochsensibilität kenne. Mit dem Thema kenne ich mich aus. Insgeheim. Denn dass ich irgendwie anders ticke, weiß ich natürlich …
2014 wird es gewesen sein, als ich auf YouTube das erste Mal über Hochsensibilität gestolpert bin. Und natürlich, im ersten Moment hat mich erleichtert: Endlich wusste ich, warum ich oft so komisch reagiere! Nur auf den Namen – „Hochsensibilität“ – reagierte ich wiederum komisch. Denn wenn ich mich mal traute, das auszusprechen, kamen gleich entrüstete Kommentare: „Ach, und ich bin etwa nicht sensibel?“ Diesen Menschen mit einem „normalsensibel“ zu kommen, was die Expertinnen oft zur Differenzierung so benennen, lohnt sich meiner Erfahrung nach nicht. Dann geht die Diskussion erst richtig los. Und wenn etwas Hochsensible hassen, dann ganz genau das.
Symptome der Hochsensibilität
Wieso sprang ich damals auf das Thema HSP (Highly Sensitive Persons) an?
Weil ich häufig unendlich viel schneller unheimlich viel sensibler als andere auf äußere Reize reagiere.
Hier in Augsburg knallt oft ein Flugzeug durch die Schallmauer, dass es nur so scheppert und kracht. Denn die Flieger-Basis in Landsberg am Lech ist so weit weg nun nicht.
Früher™, in Agenturzeiten im gemeinsamen Büro, bin ich bei dem ohrenbetäubenden Geräusch jedesmal als Erste zusammengezuckt. Mit entkam ein „Hoi!“, bevor es den anderen überhaupt auffiel. „Du reagierst aber empfindlich!“, habe ich so oft gesagt bekommen, dass keine zwölf zusätzlichen Arme dieser Welt ausreichen würden, um es an den Fingern abzuzählen. Etwas freundlicher: „Du hast aber feine Antennen!“
Eine Kollegin bemitleidete mich gar: Als sie unerwartet aus einer Tür herauskam, an der ich gerade vorbeiwollte, hüpfte ich wie ein Flummi hoch und quiekste wie ein Meerschweinchen.
„Du hast mich halt erschreckt!“, erklärte ich mein peinliches Quieken.
Ihr verdatterter Blick: Unbeschreiblich!
„Das ist ja furchtbar, wenn du so reagierst“, meinte sie. Ich konnte es locker wegwischen. Denn:
Das alles kann ich durchaus unter „lustig“ verbuchen.
Aber mit lustig war es irgendwann im Großraumbüro vorbei, und das nicht nur einmal: Als einmal zwei Gespräche gleichzeitig stattfanden und sich auch noch das dritte anbahnte, musste ich fliehen. Ich türmte aufs Klo, obwohl ich nicht musste; nur, um dem Wahnsinn zu entkommen. Dabei hätte man den Wahnsinn wohl eher mir ankredenzt, denn alle anderen störten sich an dem Tohuwabohu keineswegs.
Und einmal wurde sogar ich verbannt: Als ich wegen einer Nervenentzündung die Kollegen bat, bitte vorübergehend die Balkontür geschlossen zu halten, damit mir nicht ständig der Luftzug auf die empfindliche Stelle an der Wange schoss, hieß es direkt von oberster Stelle: „Miriam, das geht nicht, dass die anderen wegen dir leiden müssen“. Es war immerhin Hochsommer, dass alle wegen mir schwitzen müssen, das geht natürlich nicht. Ich musste meinen iMac packen und ins Kabuff ziehen.
Und das sind nur die körperlichen Dinge.
„Hochsensibilität ist was für elitäre Esoteriker!“
Hochsensibilität macht vor allem in der Coaching-Szene die Runde, klar. Und auch in spirituellen Kreisen: Denn neben der Auffälligkeit, dass Hochsensible intensiver auf physische Reize reagieren (Geräusche, Gerüche, Materialien …), sind es auch Phänomene, die weniger gut erklärbar sind – weil sie nix mit dem mechanistischen Weltbild zu tun haben.
Um unesoterische Menschen jetzt nicht komplett zu verstören, sei nur soviel gesagt: Beim Meditieren habe ich mir oft genug überlegt, ob ich nicht besser mal meine Kopfhörer prüfen sollte, ob die irgendwo kaputt sind und Strom durchleiten. So oft, wie es mich auf der Scheitelkrone brizzelt.
Dieser metaphysische Aspekt macht nicht selten Angst bis skeptisch: Autismus-Experten wie Katharina Schön bezeichnen den Begriff bzw. das Konzept der Hochsensibilität – denn medizinisch bewiesen ist es (noch) nicht – gar als behindertenfeindlich: Es verschleiere die Tatsache, dass betroffene Mensch durchaus zum Autismus-Spektrum gehören und würde daher das Gesamtbild verwässern. „Hochsensibel“ wäre anstelle von „autistisch“ das „schönere Label“ für „die Priviligierten, von denen sich keiner als krank oder gar behindert bezeichnen will – weil sie es ja nicht müssen“. Diese Aussage hakt für meinen Geschmack aber, denn:
Ich persönlich kenne keine Hochsensiblen, die sich selbst freiwillig so nennen.
Ganz im Gegenteil! Sie hassen diesen Begriff, eben weil sie nicht unangenehm hervorstechen wollen (übrigens auch ein typisches Merkmal für HSP). Hochsensible wollen Konflikt auf jeden Fall vermeiden: Sie hassen alles, das die Ruhe und die Harmonie stört. Deswegen gehen sie niemals mit dem Begriff hausieren. Deswegen ist mein „Reiseblog für Hochsensible“ gestorben, bevor er überhaupt online ging.
Herumkrähen, dass sie ja ach sooooo hochsensibel sind, tun vielmehr die, die es höchstvermutlich nicht den Hauch einer Bohne sind. Die wollen nur auffallen: „Ooooh, ich bin ja so hochsensiiiibel, deswegen kann ich das und das nicht und buhuuuuuu und NIMM VERDAMMT NOCHMAL RÜCKSICHT AUF MICH! Und hier ist der Platz für meine Medaille“ und klopft sich auf die Schulter. Dieses Verhalten ist ironischerweise vielmehr ein Anzeichen für Narzissmus – dem exakt diametral aufgestellten, offiziellen Gegenspieler der Hochsensibilität.
Wer kennt sich da noch aus? Haben wir langsam alle Begriffen beieinander?
Hochsensibilität, Asperger, Autismus, Narzissmus, ADHS …
Ich möchte glatt ergänzen um ein genervtes: „Und Blabla!”

Asperger oder was?
Bin ich ein schon Asperger, wenn ich manchmal sehr nüchtern rüberkomme? Das wurde mir schon einige Male unterstellt. Ich empfand es jedesmal wie blanken Hohn, weil ich ja mitbekomme, was in mir passiert. Wieder andere sagen mir, ich wäre auf den ersten Blick ein hoch-emotionaler Typ. Ja – watt den nu?
Ist es ein Anzeichen von Autismus, wenn ich auf Zahlen achte – wie 11:11 oder 333 – oder nur die logische Folge, weil ich mich mit esoterischen Dingen wie Numerologie beschäftige?
Wenn ich als Erste oder Einzige bemerke, dass jemand beim Friseur war: Ist das nun Autismus, Asperger – oder einfach aufmerksam?
Ich kenne ein Paar Menschen, die eine offizielle Autismus- und/oder Asperger-Diagnose haben. Mit ihnen komme ich super zurecht, hege allerhöchste Sympathie und halte sie für die coolsten Hunde. Entsprechend dem Prinzip „Gleiches zu Gleichem“ müsste es darauf schließen lassen, dass ich „auch so jemand bin“.
„Soll ich deswegen mal zum Arzt?“, habe ich mich mal gefragt.
Und mich schnell dagegen entschieden. Nicht aus elitären, versnobten Gründen – sondern aus ganz pragmatischen.
„Was bringt mir die Diagnose?“
Nun gut, ich reagiere offensichtlich schneller und intensiver auf Reize von außen. Dennoch erlebe ich mein ganzes Leben schon, welch verdammt zähes Luder ich sein kann.
„Kompensation!“, werden jetzt einige vermutlich unken. Ich weiß es nicht. Kann sein. Ich weiß nur, dass ich mit meinem Leben und mir mittlerweile prima zurechtkomme. Auch mit den Aspekten, die ein bisschen komisch sind; für mich sind das einfach meine Special Effects.
Was mich früher gestört oder verunsichert hat, verorte ich heute vielmehr bei dem Thema: Selbstwertgefühl.
Ich wüsste nicht, was es in meinem Leben anders machen oder gar verbessern würde, hätte ich irgendeine offizielle Diagnose. Egal ob Asperger oder Hochsensibel, ich will keine von beiden. „Besser gefallen“ würde mir entgegen Schöns Aussage sogar der Asperger.
„Ich bin/hab vielleicht nen Asperger?!“, begann ich vorsichtig eine Selbstoffenbarung bei meinem Homöopathen. „Das ist doch wunderbar!“, strahlte er mich an. „Im Silicon Valley stellen die nur solche ein!“
Ist das jetzt schon wieder „positiver Ableismus“? Ich bin verwirrt!
Vielleicht wäre es früher im Angestelltendasein praktisch gewesen, offiziell mit einem Behindertenausweis wedeln zu können: „Ich habe jetzt offiziell eine Bescheinigung, dass Großraumbüro und ich inkompatibel sind!“ Aber was wäre dann passiert? Ich hätte vermutlich für immer ins Kabuff ziehen müssen. Hätte ich das gewollt? Ganz sicher nicht!
Identifikation ist niemals gut
Es ist immer gefährlich, wenn sich irgendwer mit irgendwas identifiziert. Denn ein „Ich hab/bin _____“ ist immer nur 1,2 Millimeter von einem monströsen #mimimi entfernt. Diese Menschen reduzieren sich selbst freiwillig auf nur einen Aspekt von ihnen.
Und das finde ich so schade: Denn ein Mensch ist so viel mehr als einfach nur hochsensibel oder autistisch: Jeder Mensch hat so einen wunderbaren, individuellen Charakter, ist voller Schwächen und Stärken. Das zeichnet ihn aus – und nicht irgendeine Diagnose.
– Wohlbemerkt –
Ich rede jetzt nicht von Menschen, die richtig stark betroffen und benachteiligt sind – bitte gebt denen ihren berechtigen Ausweis, die dafür notwendige Einstufung und sämtliche Mittel und Fördermöglichkeiten, die es gibt!
Aber wenn jemand nicht wie Obelix in den Autismus-Topf gefallen ist, dann frage ich mich:
Wie dienlich ist das Label?
Was bringt es mir, offiziell sagen zu können: „Ich bin hochsensibel“ oder „Ich bin/hab nen Asperger“? Nix, außer Nachteile: Weil ich dann abgestempelt würde. Als die, der man nicht so viel zutrauen kann (ich könnte nicht mehr lachen …), oder auf die man ständig aufpassen und Rücksicht nehmen muss. Ich würde mich freiwillig proaktiv framen lassen, bevor sie mich überhaupt besser kennengelernt haben. Ständig schwänge dann das Label X mit. Das will ich nicht, denn ich bin mehr als meine Hochsensibilität, Asperger oder was auch immer.
Und als würde das nicht reichen, ploppen ständig neue Bezeichnungen auf.
Hochsensibel, Hypervigilant oder Asperger, Autismus … oder was?
„Hypervigilant“ ist noch recht neu. Es meint, dass einige Menschen nur deswegen hochsensibel sind, weil sich der eigene Körper die übertriebene Empfindsamkeit als reine Schutzmechanik hochgefahren hat. Demzufolge reagieren die Nerven nur so empfindlich, weil das komplette System ständig in „Hab acht!“-Stellung ist. Die Erklärung: Macht durchaus Sinn. Der Grund? Traumata in der Kindheit.
Zeig mir einen Menschen, der nicht traumatisiert ist!
Bei mir könnte „hypervigilant“ durchaus auch passen. Genauso wie Narzissmus oder _______, wenn ich mich drei Stunden zu lang mit dem Thema beschäftige. Mit derartigen Selbstdiagnosen sollte man es lieber lassen. Ein Online-Test kann natürlich helfen, sich selbst besser einzuschätzen. Sich mit dem Thema beschäftigen – tut gut! Sich darauf ausruhen: Oh bitte nicht.
Ich habe den größten Respekt vor Psychologen und Psychiatern, die da die feinen Grenzen in dem gewaltigen Spektrum der Neurodiversität erkennen und die Unterschiede klar ausmachen können. Für mich Fachfremde klingt am Ende alles gleich.
Und deswegen habe ich mich dafür entschieden: Ich bin nichts davon – auch wenn ich irgendetwas davon haben sollte. Ich bin einfach Miriam, und ich habe meine Macken wie jeder Mensch auch.
Fazit: Ob Aspeger oder Hochsensibel – was macht’s aus?
Wenn jemand nicht wirklich, wirklich krank ist und Hilfe und Unterstützung braucht, kann ich jedem nur raten, sich mit der Eigen-Etikettierung nur zurückzuhalten. Wie oben bereits erwähnt, geht eine Opfermentalität damit schneller einher, als einem lieb ist. Und einmal drin in der Rolle, kommt man auch nicht mehr so einfach raus: Denn das menschliche Gehirn liebt Routinen. Einmal drin, immer drin! Festgefahrenes wieder loslassen ist eine der schwierigsten Sachen im Leben.
Ich halte es lieber mit:
Einfach leben – und machen!
Als der, der man ist.
Daher sollte sich für meinen Geschmack niemand auf irgendein Label reduzieren lassen.
Schon gar nicht von sich selbst.
Quellen
*Bei Bumble kann man neuerdings bei „Initiativen und Communities“ neben Black Lives Matter, Umweltschutz, Feminismus und weiteren auch Neurodiversität auswählen. Der Begriff „neurodivers“ wird laut Google-Trends erst seit 2018 geführt.

Links und weiterführende Literatur
(vor allem zur Hochsensibilität)
Je pense trop – Ich denke zuviel, Christel Petitcollin: Mentale Hocheffizienz, die Bedeutung von der hyperaktiven assoziativen rechten Gehirnhälfte im Vergleich zur logischen linken
Wenn die Haut zu dünn ist, Rolf Sellin
Sylvia Harke – YouTube für hochsensible Frauen / HSP Academy
Hoch X Akademie von Anne Heintze
Godmother of HSP Elaine Aaron
Relativ aussagekräftiger HSP-Selbsttest auf Zartbesaitet
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Foto / Illustration: © Miriam Lochner