Was ist nur los auf dieser Welt? Sie hat sich seit spätestens 2020 in zwei Lager aufteilen lassen, von der natürlich jedes meint, es wüsste alles besser. Allen voran erstaunen mich immer wieder die sogenannte „woke culture“ mit ihrem kalten Moralismus, der sich über alles und jeden erhaben wähnt: Hier wird mit erhobenem Zeigefinger so wild gewedelt, dass sich nicht nur die Gemüter, sondern schon glatt die Luft selbst erhitzt! Solch Verhalten nennt sich Virtue Signalling. Etwas, mit dem ich persönlich absolut nichts anfangen kann: Es beginnt schon damit, dass ich alle fünf Minuten vergesse, wo bei diesem Wort welcher Buchstabe hingehört.
Virtue Signalling: Definition
Laut Wikipedia ist Virtue Signalling ein abwertender Begriff. Ich frage mich, wie ein Begriff abwertend sein kann, wenn er ein abwertendes Verhalten beschreibt. Aber gut, ist halt Wikipedia …
Das Cambridge Dictionary definiert Virtue Signalling neutraler als „den Versuch, anderen Menschen zu zeigen, dass man ein guter Mensch ist, indem man beispielsweise Meinungen äußert, die für sie akzeptabel sind, insbesondere in den sozialen Medien: Virtue Signalling ist die beliebte moderne Angewohnheit, zu zeigen, dass man tugendhaft ist, indem man Abscheu oder Zustimmung zu bestimmten politischen Ideen oder kulturellen Ereignissen äußert.“ [Original: „an attempt to show other people that you are a good person, for example by expressing opinions that will be acceptable to them, especially on social media: Virtue signalling is the popular modern habit of indicating that one has virtue merely by expressing disgust or favour for certain political ideas or cultural happenings.“]
Virtue Signalling – ein Begriff, mit dem ich bis jetzt hadere
„Virtu … was?“ stottere ich immer wieder. Mein Englisch ist sosolala – wenn man es nach dem Abi kaum genutzt hat, verabschiedet es schneller als ein Medizinball, den man in Treibsand wirft. Besser habe ich alte Lateinerin virtūs (lat.) im Hinterkopf behalten: die Tugend, Tugendhaftigkeit, aber auch die Tüchtigkeit, Tatkraft, Tapferkeit, Macht und Heldentat. Virtue Signalling erscheint mir so gesehen vor allem wie eine Machtdemonstration:
Doch für die Sender überdeutlicher Tugendsignale steht die Förderung der eigenen Reputation im Vordergrund und nicht der Beitrag zum moralischen Diskurs der Gesamtgesellschaft.
Virtue signalling als Strategie symbolischer Kommunikation – wikipedia
Die auxkvisite Übersetzung von Virtue Signalling lautet von daher: „Viel Blabla und nix dahinter“.
Was bewirkt Virtue Signalling?
Nichts. Außer reine Egostreichelei. Naja: Und Streiterei, Gezänk, Unstimmigkeit, pyramidales Zur-Schau-Stellen der eigenen Moralvorstellungen. Synergie fördert das nicht!
Was braucht es stattdessen?
Virtue living?
Anstatt „die Tugend zu signalisieren“ wäre es so viel wichtiger, sie zu leben. Und die preußische „Tugendhaftigkeit“ kann man in diesem Zuge auch gleich ersetzen, denn Tugend ist irre individuell: Was man selbst für tugendhaft und damit richtig hält, kann für einen anderen schon wieder ein riesengroßer Bullshit sein (ich denke nur ans hochexplosive Thema Gendern).
Du meinst vielleicht, dass etwas richtig ist, weil du es so gelernt hast – in deiner Familie, im Freundeskreis, in der Schule; später im Studium, im Kreis der Kollegen. Wärst du ein paar hundert Kilometer wo anders geboren und in einem anderen Umfeld sozialisiert worden, würdest du die Welt schon wieder mindestens etwas anders wahrnehmen. Jedes Land, jede Kultur hat ihre eigene Geschichte und damit ihr Werte- und Weltbild. Somit gelten auch überall – wenn auch nur minimal – unterschiedliche Vorstellungen. Wichtig: Diese sind nicht „richtiger“ oder „falscher“. Werten ist hier – wie so oft – fehl am Platze; die jeweiligen Wertvorstellungen sind einfach im jeweiligen Kontext passender und gewohnter. Pro-Tipp am Rande: Gerade das Gewohnte kann jederzeit hinterfragt werden!
Wenn wir das Feld der bloßen Tugend verlassen, die so stark von der individuellen Bewertung geprägt sind, kommen wir in einen Bereich, wo wir dafür wieder Verbindung finden. Denn es gibt übergeordnete Werte, die ein Paar Nummer größer sind als unsere persönlichen Vorlieben und Prägungen. Werte wie: Wahrheit. Frieden. Freiheit. Liebe. Sie dienen dem großen Ganzen, dem Kollektiv, sind lebensbejahend und -weisend. Hast du dich schon mal für andere zurückgenommen? Weil du wusstest, es muss einfach sein? Auch, wenn du selbst einen kleinen Nachteil davon hattest? Voilà, dann lebst du wahre Werte!
Living statt sinalling
Das „Dumme“ an diesen übergeordneten Werten ist: Sie lassen sich unmöglich nur signalisieren. Das ist, wie wenn du einmal sagst „Ich liebe dich“, es aber dann nie zeigst. Diese Werte, diese Prinzipien müssen aktiv gelebt werden. Und das konsequent. Es ist nicht mit einer Demo getan oder mit einem einmaligen Event: Solche Prinzipien müssen in den Alltag integriert werden, damit sie zum Selbstverständnis und bestenfalls auch -läufer werden können.
Wie sieht es mit dir aus?
Sobald dich etwas im Außen so nervt, dass du es ändern willst, atme mal kurz durch: Warum triggert es dich so? Irgendetwas will dir die Situation zeigen, sonst ließe sie dich ja kalt. Wenn du also den (Über-)Moralapostel spielst und den Finger anklagend gegen deinen „Feind“ erhebst, dann guck mal auf deine Hand: Wie viele Finger deuten auf den anderen – und wie viele auf dich?
Titelbild: © Yagnik Nanera / Unsplash