Es ist fast Herbst 2020, November – die Zeit, die einen ohnehin wenig freut: Es wird früher dunkel. Selbst am Morgen, wenn es hell ist, sieht es alles andere als phantastisch aus. Schaut man nach draußen, verliert sich der Blick im Nebel. Nachbarshaus, wo bist du hin? Einziger Farbklecks: Ein bisschen Gelb, Grün und Braun. Nicht vom Laub, das hat der Laubbläser hinweggefegt, sondern von den Mülltonnen. Wohlsortierte Trostlosigkeit. Und das geht jetzt die nächsten Monate so – Freude sieht anders aus!
Zudem kommt momentan noch hinzu, was mit einem C beginnt. Es ist Herbst 2020, Stichwort für alle Leser der Zukunft. (Oh, könnt ihr mit bitte schon verraten, wie es euch so geht? Was auf der Welt mittlerweile los ist? Und: Wer hat die US-Präsidentschaftswahl gewonnen?)
Wir haben also das übliche Herbst-Schlechte-Laune-Dilemma, das von der ultimativen Ungewissheitswolke von Corona gekrönt wird: Nächster Lockdown ja oder nein, was sind schlaue Maßnahmen, sind Maßnahmen überhaupt schlau? Wer ist schlau? Die einen – oder die anderen? Ist es schlau, sich ständig in Diskussionen rund um Covid-19 verwickeln zu lassen? (Spoiler: Nein.)
Als wäre Corona nicht schon genug, kommt jetzt noch der Herbst 2020 hinzu.
Neben all diesem großen negativen Bullshitscheiß, den der verfickte scheißdunkle Herbst schon mit sich bringt , liegen nun gefühlt auch überall im Kleinen, Privaten die Nerven blank. Kollegen, Familien, Freunde drehen am Rad, mal ist es Wut, mal Unverständnis, mal absolute Traurigkeit bishin zur puren Ohnmacht. Ich spüre es selbst ja auch: normalerweise fluche ich nicht ganz so viel und heule auch deutlich seltener. Es ist ein schwacher Trost, nein, eigentlich könnte es richtig Panik schüren, wenn ich von anderen höre, dass es ihnen ganz genau so geht. Ungeachtet der Tatsache, ob sie gerade auch alleine sind oder mit Partner oder Familie. Die Scheiße dampft dann eben an einer anderen Stelle. Gefühlt alle drehen gerade am Rad, können nicht mehr, merken es physisch, psychisch, wenn nicht gleich beides.
Und neben der Frage „Wie lange das alles noch?“ brüte ich über „Wie kann man jetzt den Menschen Gutes tun?“. Nette kleine Zettel verteilen? Himmel, wie trivial! Kann man es überhaupt? Ist es in so einer Situation nicht etwas viel verlangt – vielleicht sollte ich die Frage lieber ein paar Stufen tiefer anpacken: „Was kann ich mir Gutes tun?“
Klingt erstmal super-egoistisch, aber: Moment!
„Wenn jeder sich um sich selbst kümmert, ist für alle gesorgt.“
In einem anderen Leben, vor zwei Jahren, sah ich dieses Graffito bei einer Zugfahrt Richtung Ammersee. Der Spruch, der mich wegen seiner provokanten Art gleich lächeln ließ – ich mag sowas –, wird auf Zitate-Portalen unter „Egoismus“ gelistet. Denn so klingt es aufs erste ja auch.
„Wenn jeder sich nur um sich selbst kümmert, wo kämen wir denn da hin?!“ ist oft die erste Reaktion von Eltern, von Christen und ganz besonders von christlichen Eltern. Alle anderen über sich selbst zu stellen hat da oft oberste Priorität.
Die Perversion dieser vermeintlich ach so selbstlosen Einstellung drängt sich einem sofort auf, wenn jemand mit einer Leidensmiene verkündet: „Das habe ich alles nur für dich getan!“ Jetzt will er mindestens ein Lob dafür kassieren, am liebsten aber das schlechtes Gewissen des Gegenübers. Nicht selten blitzt dann etwas Teuflisches über das Gesicht, irgendwo zwischen Missachtung und Genugtuung. Himmel, wie bigott!
Ich bin nicht besonders bibelfest und noch weniger kirchenkonform, aber dieses „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ habe ich mir dann doch gemerkt. Dieses „selbst“ mag zwar erst an zweiter Stelle genannt werden, aber das kleine Wörtchen „wie“ macht klar: Es ist die Basis für das zuerst genannte. Wenn ich mich selbst nicht liebe, kann ich keinen anderen lieben. Light-Version: Wenn ich mich nicht um mich selbst kümmere, kann ich mich auch nicht um andere kümmern.
Sei erst einmal lieb zu dir selbst
Weil du nie Gewissheit haben kannst, dass sich jemand anders um dich kümmert, und es auch ziemlich viel verlangt ist, das ständig allen anderen abzuverlangen, wenn du älter als 12 Jahren und sonst einigermaßen fit bist, solltest du es einfach selber tun. Es ist fies, das von anderen einzufordern, und ziemlich blöd, es nicht für sich selbst zu machen.
Nur du weißt, was dir wirklich gut tut. Stoß andere vermeintlich ruhig mal vor den Kopf mit einem „Ich brauch jetzt eine Stunde für mich!“ Sie werden es überleben. Und, uh, sie kommen womöglich dann auf die Idee, sich in der Zeit ihrerseits selbst etwas Gutes zu gönnen.
Natürlich kannst du dich ständig liebevoll um alle kümmern. Aber: Wenn du ausbrennst, bringt das auch keinem was. Und, Hand aufs Herz, und fasse jetzt nicht panisch Richtung Kopf, wenn du das Gefühl hast, dass dir das einen Zacken aus der Krone brechen könnte: Ist den anderen womöglich mehr geholfen, wenn du sie dazu anregst, dass sie sich um sich selbst kümmern, anstatt dass du sie ständig helikoptermäßig betüddelst?
Natürlich müssen wir Menschen weiterhin auch aufeinander achten. Aber das tun wir ohnehin, weil wir soziale Wesen sind. Wenn wir immer nur auf andere gucken, rutschen wir immer mehr aus der eigenen Mitte, die jetzt, in einer Zeit historischen Chaos’, umso wichtiger ist.
Wie kann man in der Mitte bleiben?
Das weiß jeder für sich.
Wie ich auf mich achte: Frei-Zeit für mich
Da jeder seinen individuellen Feel-Good-Oder-Zuimndest-Nicht-Komplett-Austicken-Plan hat, kann ich keine verallgemeinernden Tipps geben. Was mir hilft, selbst im Herbst 2020, ist auch ganz banal:
- Meditation (meinen ausführlichen Artikel dazu findest du hier)
- Spazierengehen
- Duschen
- Yoga
- harmlose, liebe, nette Serien (aktuell: The Marvelous Mr. Maisel – Amazon; Kritik auf zeit.de)
- und, wenn alle Stricke reißen und die Emotionen hochkochen: heulen, fluchen, was auch immer gerade ansteht
Das sind die schnellen Immer-Geher.
Am besten jedoch: Richtig abtauchen und den Kopf freibekommen, indem ich mich etwas widme, das mich richtig absorbiert. Das kann ein gutes Buch sein, Handpan spielen (sorry, liebe Nachbarn) oder eben schreiben oder zeichnen. Vermutlich sind das einfach eben Hobbies (wie ich finde nach wie vor ein schreckliches Wort), die dem Menschen so gut tun: Dieser Teil der Freizeitgestaltung, die nicht nur einfach in der freien Zeit stattfinden, sondern den Kopf freimachen, weil Zeit keine Rolle spielt.
Sei lieb zu dir – damit du es weiterhin zu anderen sein kannst
Sich in erster Linie um sich selbst zu kümmern hat also weit weniger mit Egoismus zu tun, als schlichtweg mit Eigenverantwortung. Wie vielen Menschen wünschen wir zur Zeit „Pass auf dich auf!“ Nicht, um damit zu sagen, dass sie nur auf sich selber schauen sollen. Sondern, weil wir ganz genau wissen: Wenn sie nicht auf sich schauen, können sie sich auch nicht mehr auf andere achten.
In dem Sinne: Pass auf dich auf!
Auch und erst Recht im Herbst 2020.