Wer Single über 30 ist, muss sich oft erklären. In dem Geschwader aus Pärchen, aus dem die meisten privaten Parties mittlerweile bestehen, fühle ich mich dann schnell wie etwas, das an einer unheilbaren Krankheit leidet oder zumindest an einem grauenvollen Ausschlag. „Was, du bist Single?!“ fragen neu hinzugekommene Pärchen und gucken einmal schnell an mir auf und ab, als würden sie an irgendeiner Stelle ein zusätzliches Körperteil vermuten. Ich drehe mich possierlich im Kreis, wie ein Tier im Zoo, das ich hier bin, und zeige, dass auch von hinten alles okay ist – kein Schwanz, keine Flügel. Sie schieben ein „Warum?“ nach, und bevor ich Luft holen kann, hagelt es auch schon gut gemeinte Ratschläge.
Eines ist nämlich klar: Als Single über 30 musst du anscheinend irgendetwas machen, weil irgendetwas mit dir verkehrt ist. Als Frau ganz besonders. Da fragt niemand, wie ich mich damit fühle und ob dieser Zustand vielleicht ganz okay ist. Sofort sofort prasseln Tipps auf mich ein, was ich anders, besser oder überhaupt machen muss. Denn dass da etwas getan werden muss, ist klar! Es folgen: Die besten „Du musst“-Tipps. Die müsst Ihr lesen!
Wer zu faul zum Lesen ist: Ich habe diesen Artikel nach dem Sprechkurs gelesen. Natürlich holpert es hier und da & ist nur mit dem iPhone aufgenommen – es war ja mein erstes Mal 😉
„Du musst einen Single über 30-VHS-Sportkurs machen!“
So haben sich Brigitte und Björn kennengelernt. Beim Volleyball oder beim Bouldern. Ist ja egal. Wenn man sich über eine gemeinsame Gemeinsamkeit kennenlernt, hat man viel Gemeinsames für die gemeinsame Zukunft. Sie strahlen mich aus ihren Funktionsjacken in derselben Farbe von derselben Marke an.
Nein, ich möchte nicht mit dem Mann, mit dem ich in Zukunft zusammen bin, zusammen laufen gehen oder Yoga machen. Das ist meine Zeit für mich. In der Zeit kann er seine haben, Klettern gehen oder irgendwelchen Bällen hinterherjagen. Brigitte und Björn seufzen gleichzeitig auf und lassen mich egoistisches Arschloch auf der Couch alleine zurück. Natürlich gehen sie im Gleichschritt. Ben, der einzige Single des Abends, lässt sich mit einem schmierigen Grinsen auf dem freigewordenen Platz neben mir nieder. Ich flüchte zu Lisa und Jan.
„Du musst mehr ausgehen!“
Lisa und Jan, die Coolsten des Abends, haben bereits eine Flasche Gin vernichtet und arbeiten an der zweiten. Sie glühen gerade vor für die richtige Feierei danach, irgendwas Elektronisches im City Club. Ich muss unbedingt mitkommen, schlagen sie vor. Bis dahin klingt alles noch ganz gut. Um eins geht es los, meinen sie. Ich muss dringend einen Schluck nehmen.
Lisa und Jan sind beide 23 und wissen noch nicht, dass irgendwann – bei mir ging es mit 26, 27 los – das Alter sich körperlich bemerkbar macht. Auch wenn wir immer so tun, als wäre 30 das neue 20. Abendliche Veranstaltungen beginnen dann besser um 20.00 Uhr, weil man um Mitternacht lieber im Bett liegt. Und das sogar mit einem Eulen-Biorhythmus. Ich bin zweifelsohne gerne länger auf, weiß mein Bett ab einer gewissen Uhrzeit aber lieber in Reichweite. Und das bedeutet eben drei Schritte und keine 3km-Taxifahrt.
Einmal feiern gehen bedeutet 3 bis 4 Tage Erholungsphase. Erfahrungsgemäß ist irgendein Tag davon ein Werk- und somit Arbeitstag. Ich kann gar nicht so viel Concealer auftragen, wie ich müsste, um noch vortäuschen zu können, ich wäre etwas Humanoides. Und der Concealer übernimmt auch nicht das Denken, Sprechen und die Feinmotorik. Das alles soll ich in Kauf nehmen dafür, dass ich zu später Stunde vielleicht jemanden sehe, der vielleicht ganz interessant ist, dann aber höchstwahrscheinlich eine Freundin oder Frau hat, die daheim geblieben ist, weil sie lieber schlafen will? Also nääääääääh. Dann lieber Single über 30! Ich habe das als Antwort laut gegrunzt. Jan und Lisa werfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu – Spießer-Alarm! – und drehen mir dezent ihre Rücken zu. Da kreuzen Martina und Martin auf, mit dem nächsten schlauen Satz auf den Lippen.
„Du musst deine Ansprüche runterschrauben!“
Ich gucke Martin an. Ich gucke Martina an. Haben sie das bei sich auch so gemacht? Spätestens jetzt meine ich das.
Meine Ansprüche sind bereits heruntergeschraubt. Nicht, weil ich den Eindruck hatte, ich müsste das tun, sondern weil ich nicht gegen das Leben resistent bin: Ich habe erlebt, wen ich alles lieben kann. Die mussten nicht meinem Anforderungs-Katalog entsprechen. Anstelle des Katalogs führe ich mittlerweile eine Lose-Zettel-Wirtschaft und hefte die immer wieder anders ab, packe neue hinzu und werfe alte weg.
Heute muss es keiner mehr mit Wuschelhaaren sein. Ich bin schon froh, wenn einer überhaupt noch Haare hat. In manchen Dingen muss man ab 30 eben Eingeständnisse machen. Aber alle Ansprüche auf Null zu setzen würde bedeuten, eine Beziehung nur um einer Beziehung Willen haben zu wollen und nicht wegen der Person. Muss ich das, Martin und Martina? Die antworten nicht, die streiten gerade.
„Ein Single über 30 muss …“
Weil ich es nicht mehr aushalte, greife ich zum herumliegenden Frauenmagazin der Gastgeberin. Der Titel klingt vielversprechend: „Single um die 30. Willkommen im Wahnsinn! Dates, Affären, Fast-Beziehungen – und wie wir die große Liebe doch noch finden“. Ich lese das Geschwafel aufmerksam, kann ihm aber nichts Neues entnehmen, außer, das ich als weiblicher Single über 30 ohnehin schon verloren habe: Wenn es nach der Redakteurin geht bzw. einer namenlosen Studie, stehen nämlich ausnahmslos alle Männer (!) – alle – auf Frauen in den 20ern. Mir fällt ein Gespräch mit einem Freund deutlich über den 40ern ein, der das bestätigt. Andere Gespräche und Studien verschwinden hinter der dunkelroten Wand, die mich langsam umschließt.
Das blöde Heft fliegt einmal quer durch den Raum und erwischt leider den Gin Tonic, dessen Deckel lose zugeschraubt war, weil ich ihn als Letzte in der Hand hatte. Tobias hebt ihn schnell auf und schenkt Markus und sich etwas ein. Sie prosten mir zu:
„Du musst deine Glück online suchen!“
Die zwei haben sich über Tinder gefunden. Oder war es doch Finya?
Ich schnaufe Tobias und Markus an. Die lesen den Blog hier wohl nicht. Dass ich da „mein Glück suche“ und häufiger kleinen Katastrophen begegne, ist den Frischverliebten nicht bekannt.
„Du musst doch einen an der Klatsche haben!“
Das sagt der Blick von Evelyn. Ihr Liebster ist gerade auf dem Klo. Solange hält sie sich an ihrem Sektglas fest und taxiert mich mit dem „Irgendwas ist mit der doch falsch“-Blick. Ich kenne ihn. Manchmal schaue ich so meine Dates an. Als sie mich ertappt, dass ich sie ertappt habe, formt sich ihr Mund zu einem Lächeln, während ihre Augen silberfarbene Eisblitze schießen. Sie treffen mich. Oder war es doch die Diskokugel der Gastgeber?
Wäre sie nicht so unsympathisch, würde ich mit ihr jetzt diskutieren, wie stark Psyche, Charakter und Prägungen aus der Kindheit zur Partnersuche beitragen und dass ich da wie jeder – absolut jeder, nicht nur wie jeder Single über 30! – einen an der Klatsche habe. Aber vor einer Frau in zu engen weißen Hosen lasse ich meine nicht runter. Dafür gibt mir Evelyn nun den liebenswerten Tipp, ich müsse mich anders anziehen: So ein Oversize-Sack wäre unsexy hoch zehn, und Männer hören lieber ein Klack-Klack von Stöckeln als ein Pfzt-Pfzt von Sneakern. Sie kann froh sein, dass ich heute nicht meine Stiefeletten trage. Die machen Klong-Klong und ihr Abdruck würde sich zauberhaft auf Evelyns Stirn machen.
Zum Glück kommt ihr bekloppter Freund von der Toilette zurück. Zeit, die jetzt selbst aufzusuchen. Auf dem Weg dahin blockieren aber Yogonavyikar und Shamina den engen Flur. Sie knutschen eng verschlungen vor der Garderobe und befinden sich mittlerweile halb in ihr.
„Du musst dich selbst lieben!“
Yogonavyikar und Shamina müssen gleich zu ihrem Tantra-Kurs und wollten deswegen gerade ihre Mäntel holen. Jetzt raunt mir aber ein vierbeiniger Wollmantel diesen Poesiealbum-Spruch zu. Tatsächlich ist dies einer der wenigen sinnvollen Tipps, wäre er nicht bis zur Unbrauchbarkeit ausgelutscht. Allen Sprüchen, die es auf Wandtattoos, Frühstücksbrettchen oder auf quadratische Formate in eine Facebook-Timeline geschafft haben, muss man grundsätzlich misstrauen.
Tatsächlich halte ich Selbstliebe für einen der wichtigsten Punkte überhaupt in einer funktionierenden Beziehung, wenn nicht sogar im ganzen Leben. Da es aber viele Menschen gibt, die nicht sonderlich selbstliebend erscheinen, aber vergeben sind, erscheint mir nicht als ausschlaggebendes Kriterium. Ich denke nicht, dass jeder Single über 30 ein eklatantes Problem mit Selbstliebe hat. Das Problem haben andere ganz genauso.
Der Wollmantel bewegt sich mittlerweile rhythmisch, ich gehe lieber schnell in die Küche zurück, in die die Party mittlerweile umgesiedelt ist. Weil die Schwangeren alle Stühle für sich beanspruchen, rutsche ich mit dem Hintern die Arbeitsplatte hoch. Zum Glück stehen Gin und Tonic in Reichweite. Ich lasse meine Aggression an den armen Gurken und Limetten aus. Mein Blick kreuzt den der hochschwangeren Sam, die mich merkwürdig ansieht. Folgendes meint sie sicher „nur gut“:
„Du musst langsam Gas geben, sonst stirbst du alleine.“
Ich verlasse die Party.
An der Tramhaltestelle stoße ich auf ein altes Paar, fein zurechtgemacht. Wahrscheinlich kommen sie vom Theater zurück. Sie halten Händchen. Mein missmutiges Gesicht wandelt sich in ein melancholisches, und der Herr fragt freundlich: „Sind Sie allein unterwegs?“ Mein Kopf bewegt sich auf und ab. Der Herr, mit einem Lächeln: „Das müssen Sie genießen, solange es geht!“ Seine Frau lacht leise, gibt ihm einen kleinen Stubs. Ich muss lächeln.
Was muss ich als Single über 30 bitte noch alles?
Ich habe bei Moleskine schon angefragt, ob sie ein Notizbuch anfertigen, das dick genug ist für all die „Du musst …”. Ich muss die Tipps doch notieren, sonst vergesse ich sie! Sie dürfen das „Du musst“ auch gerne vorab eindrucken, habe ich ihnen angeboten. Das würde ungemein Schreibarbeit sparen. Moleskine hat geantwortet, das könnte noch ein bisschen dauern, weil sie das in allen Sprachen anbieten müssen.
Was ich alles reinschreiben muss? „Ich muss das nächste Mal beim Daten gewisse Regeln einhalten.“, „Ich muss ihn ,als Jäger fühlen lassen‘.“ „Ich muss ihn zappeln lassen.“ „Ich darf auf keinen Fall zu früh zeigen, dass er mir gefällt, aber noch weniger zu spät, denn dann ist es zu spät.“ Und, natürlich: „Ich muss ganz dringend Jemanden finden, weil … weil …“ Das wissen die Anderen wohl besser als ich. Moment, ich muss die nochmal fragen.
Sollte ich jemals eines bekommen, lege ich das Moleskine neben das Klo. Denn da muss es hin.
Ach, und wo wir schon dabei sind:
Brigitte und Björn: Ihr müsst ganz dringend euren Kleidungsstil hinterfragen.
Lisa und Jan: Ihr müsst Eure Zeit nutzen, solange ihr jung und fresh seid. Irgendwann hockt auch ihr daheim und guckt lieber Serien oder alle Wes Anderson Filme hintereinander.
Martina und Martin: Ihr müsst … ach, ihr zankt schon wieder. Vielleicht müsst ihr euch trennen.
Tobias und Markus: Ihr müsst Auxkvisit abonnieren. Über RSS, Facebook oder Twitter.
Evelyn: Du musst lernen, netter zu sein. Bitch. Und deine Hose eine Nummer größer kaufen.
Yogonavyikar und Shamina: Ihr müsst den Mantel dringend zur Reinigung bringen.
Sam: Du musst einfach mal die Fresse halten.