Wenn man 1980 geboren ist, hat man es nicht so einfach, sich in die richtige Generations-Schublade einordnen zu können: Für X ist man zu jung, für Y zu alt. 2016 erschien nun das Buch von Michael Nast „Generation Beziehungsunfähig“ und bietet uns die Möglichkeit, uns zusammen in diese ungemütliche Schublade zu kuscheln.
Beziehungsunfähig – wer will das bitte schon sein? Lieber wären wir etwas anderes – perfekt zum Beispiel. Dennoch oder gerade deswegen trifft das Buch den richtigen Nerv. Es rangiert immer noch auf Platz 1 auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Michael Nast ist gerade auf Lesereise unterwegs und stellte sein Buch am Donnerstag auch in Augsburg vor. Ich wurde eingeladen, kaufte mir sofort danach das Buch und stelle nun nach 239 Seiten fest: Um Singlesein und Beziehung geht es da gar nicht so sehr. Sondern um alle Beziehungen – um die zu unseren Freunden, der Familie, Kollegen, Chefs. Und um die zu uns selbst.
„Generation Beziehungsunfähig“ – der Bestseller kommt nicht von ungefähr und direkt aus Berlin.
Der Titel ist natürlich erst mal provokant. Allerdings wird der Begriff nicht im pathologischen Sinn verwendet, Michael Nast ist ja auch kein Psychologe. Vielmehr beschreibt sein Buch die aktuelle Generation und unser Lebensgefühl – es dürfen sich vor allem die jetzt 25- bis 40jährigen angesprochen fühlen. Darüber hinaus erreicht er aber, selbst davon überrascht, weitaus mehr Leute. Egal ob 16 oder 46 Jahre alt – oder auch in Südkorea: Dorthin soll sein Buch nun auch übersetzt werden, verriet er zu Beginn der Lesung.
Er hat es also geschafft, einen höchst empfindlichen Nerv zu treffen, und geht dabei doch so feinfühlig vor wie ein Akupunkteur. Einer mit Berliner Schnodderschnauze, versteht sich. Denn Michael Nast schreibt von da, wo jeder coole Hipster hin will: mitten aus Berlin Prenzlauer Berg. Macht aber nix: Das meiste, was er beschreibt, trifft auch auf Köln, Hamburg und Augsburg zu. Weil wir alle das Gleiche erleben, auch wenn es das Augsburger Publikum nicht zugeben will. Auf die Frage, wer alles bei Tinder sei, erhoben sich nur sechs Hände – come on!
Die Texte im Buch erinnern an die lose Blattsammlung, aus der Michael am Donnerstag vorlas. Sie können alle einzeln für sich gelesen werden; mehr Spaß macht es aber natürlich, alles zu lesen. Die Geschichten sind so kurzweilig, dass das auch gut in einem Rutsch geht.
„Generation Beziehungsunfähig“ stellt sich dabei nicht nur den Themen Single-Sein und Liebe-Finden, diese machen tatsächlich nur einen kleinen Teil des Buchs aus. „Berufung Beruf“ heißt etwa ein Kapitel. Die Headline des Textes „Ich mach da so’n Projekt“ verrät schon vieles: Man stöhnt auf und weiß genau, dass irgendwann „ein Gehalt von 1000 Euro von irgendjemandem in der Medien-Branche“ erwähnt werden wird. Brutto natürlich. In „Dreißig ist das neue Zwanzig“ widmen sich mehrere Texte unserer nicht enden wollenden Jugend. Auch in „Religion Selbstoptimierung“ tauchen Berliner Kneipengespräche auf, in denen über das letzte Tinder-Date philosophiert wird – weil 2016 eben auch Beziehungen maximiert werden müssen. Nur schade, wenn man dann liest, dass ausgerechnet in Sachen Verhütung lieber minimiert wird …
Und all das ohne erhobenem Zeigefinger
Dennoch kommt nie ein Fingerzeig von Michael, der da sagt: „Du bist doch beziehungsunfähig!?“– diese Frage stellt er sich höchstens selbst. Er liefert uns keine Vorschläge, was wir tun könnten oder gar müssen – Belletristik verschafft einem ja wesentlich mehr Erkenntnis als sämtliche Ratgeber, so Michaels Devise. Also sieht er einfach scharf hin und beschreibt sein Leben und das seiner Freunde: Was geschieht? Was läuft falsch? Ist es überhaupt „falsch“? Auf jeden Fall läuft unser Leben heute deutlich anders ab verglichen mit dem unserer Eltern: Die hatten in unserem Alter bereits Kinder, Haus und Auto. Und was haben wir? Kleine Wohnungen, coole WGs – und alle Freiheiten der Welt. Unsere Eltern beneiden uns, dass wir im Gegensatz zu ihnen alle Möglichkeiten der Welt haben und verstehen nicht, dass uns genau das Angst und deswegen handlungsunfähig macht. Wer an einer Kreuzung überall hin gehen kann, weil er weder Plan hat noch nirgendwo hin gehen muss, bleibt eben erst einmal stehen und schaut sich hilflos um. Ob in Berlin, München – oder Augsburg.
Wen suchen wir wirklich?
In „Generation Beziehungsunfähig“ kristallisiert sich schnell heraus, was unsere wirklichen Probleme sind: Das ständige Überangebot – immer und überall. Wenn jemand beim Feiern im Club drei Frauen interessant findet, schwindet die Chance, dass er mit einer nach Hause geht, so Nast. Dann lieber nur eine. Und jetzt denken wir mal an die tausende Benutzer bei Tinder …
Dazu kommt unser Drang nach Perfektion. Ist doch klar, dass wir uns da nicht mehr entscheiden können, ja es gar nicht erst wollen. Es gibt immer etwas vielleicht noch Besseres. Dafür wollen wir uns alles offen halten und uns in der Gegenwart gar nicht erst festlegen. Das gilt für den Job, den Handyvertrag – und für den potenziellen Partner.
Es soll ja auch alles perfekt zu uns passen. Die Außenwirkung muss stimmen. Wir wollen jedem zeigen, wer wir sind. Wenn wir das nicht wissen, zeigen wir eben, wer wir sein möchten. Und wenn wir selbst das nicht wissen, dann zeigen wir eben das, von dem wir meinen, dass wir es sein wollen. Wer wir sind, wissen nur noch die wenigsten. Wir bewegen uns in einem Spannungsfeld, in dem wir uns selbst verdammt wichtig finden, aber nicht zu uns selbst.
Wir sind also nicht nur die Generation Beziehungsunfähig, sondern die Generation Fassade, die Generation Glatt, und vor allem die Generation Vielleicht. Vielleicht lieber morgen … vielleicht lieber nie?
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„Generation Beziehungsunfähig“ ist keine Klatsche gegen den Leser, sondern gegen das System.
Im ersten Moment war ich noch beruhigt zu sehen, wie viele Menschen ähnliche Erfahrungen beim Onlinedaten erleben. Ich fühlte mich weniger allein mit meinen grässlichen Tinder-Date-Erfahrungen (Ihr erinnert Euch sicher an meine Artikel dazu) .
Im nächsten Moment schwankte meine Erleichterung in Entsetzen um: Hier hat nicht nur das Individuum, sondern das gesamte Kollektiv einen Knacks! Sind wir echt alle so bescheuert, wo wir alle eigentlich soooo gebildet sind? (Michael bezeichnete uns in der Begrüßung mit einem Augenzwinkern als „Augsburger Mittelschichts-Elite“.) Woher kommt denn unser Drang nach Perfektionismus, unser ständiges Gefühl der Unzulänglichkeit? Wer suggeriert uns ständig: So, wie wir sind, sind wir nicht gut genug? Warum legen wir so viel Wert darauf, mit Mitte 30 als jung/jugendlich bezeichnet werden zu wollen? Warum verlegen wir das Erwachsenwerden lieber auf morgen? Warum bedeutet Effizienz alles? Kann man sich ein Image mit den angesagtesten Markensneakern erkaufen?
Können wir aus diesem System noch ausbrechen? Wir brauchen doch unsere unterbezahlten Jobs und die Kohle: Für die geile Altbauwohnung mit dem Fischgrätparkett und den Flügeltüren, die vielen Reisen, das neue Fahrrad, all die Gin-Tonics. Und das alles brauchen wir, weil … also ja, weil … Ähm. Hm. Ja.
Ein Buch zum reflektieren
Michael hält uns einen Spiegel vor, und wir sehen uns darin selbst an die Nase fassen. (Ich bin neidisch auf den, der sich nur in der Nase bohren sieht, weil er sich nicht angesprochen fühlt. Davon gibt es sicher auch genügende. Das sind vielleicht die, die sich einen – so schreibt Michael – Zeitschriften-Ständer fürs Gästeklo zum Geburtstag wünschen.)
Michaels messerscharfe Beschreibung in seinem Artikel „Generation Beziehungsunfähig“ brachte den Server der Seite „im Gegenteil“ fast zum Einstürzen. Die Zugriffszahlen sprechen für sich, wie aktuell das Thema ist. Und brachten Michaels Durchbruch.
Das Buch kann sehr gut in einem Rutsch durchgelesen werden – lieber aber doch häppchenweise. Nach spätestens drei Texten braucht wohl jeder, der bewusst liest, eine kurze Pause. Michael schreibt zwar mit einfachen, klaren Worten, aber bei aller Leichtigkeit ist sein Buch eben doch keine leichte Kost. Die Erkenntnis „Fuck, ja, genau so ist es“ zwingt einen ja doch, sich Gedanken zu machen. Weil es nicht nur um die eigene Beziehungsunfähigkeit, den eigenen Perfektionismus, die ewig eigenen Probleme geht, sondern letztlich um die ganze Gesellschaft, die ständig konsumiert, alles – und jeden.
Tja.
Die Lesung am 25.4.2015 im CinemaxX in Augsburg
Ja, ein Sympathischer ist er, das war schnell klar: Michael versteht sich in Selbstironie. („Wieso lacht Ihr? Ich trage Schwarz. Das macht schlank.“ – Vorsichtshalber erwähnt: Ja, ist er auch.) Michael reagiert schnell und lässig auf seine Umgebung. Das schlechte Leselicht – stört ihn nicht. Er liest von einer losen Blattsammlung, arrangiert das Gelesene auf einen Haufen und mit Anekdoten und plaudert mit dem Publikum, als säßen wir alle zusammen in einer Kneipe. Und natürlich greift er immer dann zum Bier, wenn es richtig spannend wird …
Danke an dieser Stelle noch mal für die Einladung von Omundo Media, die ich gerne angenommen habe. Rund herum hat das Ganze wohl auch die Zeitschrift „Freundin“ organisiert, die uns mit Sekt in diversen Geschmacksrichtungen und Goodiebags versorgt hat. Das hätte es für meinen Geschmack nicht gebraucht. Passender hätte ich es gefunden, wenn das Ganze zum Beispiel im Kulturpark West stattgefunden hätte. Oder im Augsburger Theater, wenn es frisch saniert ist. Bis dahin wird Michael doch bestimmt sein nächstes Buch fertig haben!
Was ich von der Lesung mitgenommen habe? Das Buch (nicht genommen, gekauft natürlich) und die Erkenntnis, dass wir uns alle ähnlicher sind, als wir es bei all dem Drang nach Individualismus oft meinen: Wir suchen die Beziehung zum tollsten Menschen der Welt – und zu uns selbst. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, uns darüber hinaus allen Menschen zu öffnen: Nicht für multi-amouröse Beziehungen unbedingt (wer mag, nur zu!), sondern grundsätzlich und überhaupt. Die Zeit scheint dafür reif zu sein.
Nicht nur vielleicht.
Hier liest Michael Euch noch die Leviten, nein, was vor!
Die weiteren Termine der Lesereise:
2. Mai Paderborn
3. Mai Stuttgart
4. Mai Magdeburg (ausverkauft)
6. Mai Göttingen
7. Mai Berlin
8. Mai Delmenhorst
9. Mai Hamburg (ausverkauft)
10. Mai Frankfurt (ausverkauft)
12. Mai Kiel
13. Mai Rostock
19. Mai Berlin (ausverkauft)
23. Oktober Leipzig
1. November Köln
8. November München
Alle Angaben ohne Gewähr und mehr Infos (auch zum Karten-Kauf) und zu Michael Nast findet Ihr auf seiner Seite www.michaelnast.com.