Wann hast du das letzte Mal etwas sein lassen? Wie fühlt sich diese Frage überhaupt an: Nach Ruhe und Entspannung – oder nach Aufgeben? Ist Letzteres per se so schlecht, wie es einem oft eingeredet wird?
Etwas sein lassen – wieviel verbirgt sich in diesen Worten. Und wie weit und mannigfach kann man das LASSEN ausdehnen: Man kann etwas da sein lassen, beim aktuellen Zustand belassen. Frei lassen.
Reinlassen geht ebenso. Sich auf etwas einlassen.
Oder man kann etwas weglassen. Loslassen.
Sich mitreißen lassen, sich fallen lassen.
Lassen: Die aktivste Form des Nichtstuns.
Es kann kein Zufall sein, dass es so viele Formen gibt, wie sich das Wörtchen „Lassen“ verwenden lässt. Somit scheint LASSEN also durchaus eine gewisse Bedeutung zu haben. Es steht im direkten Kontrast zum MACHEN. Machen kann man ja auch sehr viel, auf- und zu oder sich etwas vor. Machen können wir alle super!
Ich habe mir in letzter Zeit einen Kopf ums LASSEN gemacht und es schließlich sein lassen, weil sich das Lassen am besten erschließt, wenn man es einfach – da haben wir es schon wieder – zulässt.
Wenn das MACHEN im spirituellen Kontext als Ausdruck maskuliner Energie gesehen wird, ist das LASSEN dann das passende Verb für die weibliche Energie?
Ja: Liegt im Lassen der Schlüssel zum gelebter, aktiver Weiblichkeit? Ist Lassen die reinste Form des weiblichen Tuns?
Disclaimer, der in der heutigen Zeit lieber sein muss:
Mit „weiblich“ ist in diesem Artikel die weibliche Energie gemeint, die absolut jeder Mensch egal welchen Geschlechts in sich trägt. „Weibliche Energie“ ist der eine Pol, der andere – wie könnte es anders sein – die „männliche Energie“. Diese Energien sind ohne jegliche Wertung zu sehen, so wie ein Nord- und Südpol eines Magneten nicht besser oder schlechter ist. Nicht unbedingt, dass sie sich gegenseitig bedingen. In jedem Fall ergänzen sie sich optimal und sind für sich selbst genommen umso deutlicher wahrnehmbar, weil das Gegenteil auch existiert. Es ist eine harmonische Koexistenz ganz ohne Kampf. Wieso sollte man auch sein liebstes Gegenüber auslöschen?
Weiblichkeit eine Spur tiefer gedacht
Wenn ich mich in der Vergangenheit über Weiblichkeit geäußert habe, ging es dabei oft simpel ums Frau-Sein. Das ist so ziemlich der naheliegendste Aspekt. Also ging es mir darum, wie es sich als Frau in einer Gesellschaft lebt, die mehr oder minder maskulin geprägt ist. Was übrigens auch zu Genüge durch die Frauen passiert.
Im Artikel über die Kibbe-Typen kam ich bereits auf die weibliche Energie zu sprechen. Etwas, das komisch anmuten kann, wenn man sich damit noch gar nie beschäftigt hat. Und vermutlich stößt es einigen auch hart auf: Feminist*nnen, ihr müsst jetzt ganz stark sein, wenn ihr nun nicht eh schon 12mal getriggert wurdet und längst abgesprungen seid. Vermutlich braucht es spätestens jetzt eine kleine Definition der beiden Energien, damit es deutlicher wird. Wie gesagt – alles wertfrei. Einfach mal annehmen und sein lassen:
Männliche Energie:
- Hart
- Aktiv: Handeln, machen, tun …
- Vorwärtsbewegung (linear)
- Geben
- Streben, Streuen, Strahlen
- Von A- nach B-Hetzen
Weibliche Energie:
- Weich
- Passiv: Ruhen, nichts tun
- Ruhige, maximal sanft ausdehnende Bewegung (zentriert, kreisförmig)
- Annehmen, empfangen, aufsaugen
- Nähren, pflegen, fruchtbaren Boden bieten
- Zentriertes Im-Moment-Angekommen-Sein
Was die meisten der westichen Prägung oft komplett falsch verstehen: Dass die weibliche Energie deswegen „im Vergleich schwächer“ wäre. Das zeigt für mein Empfinden nur, welch gehöriges Problem wir mit dieser Energie haben. Umso mehr sollten wir uns mal dem LASSEN zuwenden, dem Verb, das die weibliche Energie am besten ausdrückt!
Lassen: das wohl weiblichste Verb
Lange Zeit habe ich der männlichen Energie ein Verb aus dem Spektrum „machen/tun/handeln“ zugeordnet und der Weiblichen ein eher passives „sein“. So ganz zufrieden war ich damit aber nie, zumal die männliche Energie ja auch IST – und SEIN so viel mehr bedeutet, als nur Dinge anzunehmen und da sein zu lassen.
Hier nähern wir uns meiner aktuellsten Erkenntnis: Als ich mich in der letzten Zeit immer mehr und mehr aufs Lassen eingelassen habe, kam mir die Erkenntnis, dass LASSEN das Verb ist, das die weibliche Energie am besten ausdrückt. Eben weil es der unmittelbare Gegenpol zum MACHEN ist. Es ist das pure nicht-machen.
LASSEN selbst macht hingegen gar nichts: Es lässt etwas weg oder zu. Machen tut dabei höchstens der andere etwas. Selbst in der stärksten Form des Lassens, wenn etwas veran-lasst wird – da rühre ich meine Finger nicht, und der andere darf fein machen. Wenn ich etwas be-lasse, ändere ich nichts. Wenn ich mich auf etwas ein-lasse, stürze ich mich tief in etwas hinein. Mehr loslassen geht nicht!
LASSEN ist somit die reinste Hingabe,
so wie MACHEN Geben ist.
Wann hast du das letzte Mal etwas gelassen?
Was das Lassen deutlich kennzeichnet: Es ist so passiv, dass ihm jeglicher Kampf – und damit auch Krampf – fern ist. Wer etwas lässt, wird ganz weich. Das macht verletzbar. Und genau das kann einem auch gehörig Angst machen.
Wenn du etwas lässt, lässt du die Zügel los. Du machst nichts und das aus bestem Grund: Du lässt etwas sein. Du lässt etwas zu. Etwas anderes darf da sein, ohne dass du dich dagegen sträubst. Man könnte böse sagen: Du hast etwas aufgegeben. Ganz genau: In diesem Moment gibst du nichts (mehr). Du BIST einfach nur, und das oder der andere darf einfach nur SEIN.
Das klingt erst einmal nach tierisch wenig und ist doch so unfassbar viel.
Lassen ist alles andere als ein Zeichen von Schwäche
Ich habe erst kürzlich jemanden ziehen lassen, den ich sehr, sehr mag. In so einem Fall kann man ohnehin nichts machen. Warum also nicht das nicht-machen so intensiv wie nur möglich machen?
Wie sehr sein- und loslassen eine Kunst ist und Kraft erfordert, lernt man spätestens in so einem Moment. Wichtig: Den anderen los- und nicht fallenlassen! Fallenlassen darf ich in so einem Moment nur mein Ego – und mich tief hinein in den Schmerz. Der Vorteil: Wenn ich den Schmerz annehme und da sein lasse, ihn vollständig durchfühle, ist er nach einer relativ übersichtlichen Zeit schlimmsten emotionalen Horrors durchstanden. Vielleicht nicht komplett. Aber die Wogen, die danach noch aufrollen, sind vergleichsweise erträglich. Erträglicher, als hätte ich den ersten Tsunami aufhalten oder vor ihm davonlaufen wollen.
Was lassen bringt? Gelassenheit – und Lässigkeit.
Obwohl man beim Lassen nichts macht, macht man damit so unendlich viel. In dem Raum absoluter Passivität kann etwas wachsen. Gras, an dem man zerrt, wächst nicht nur nicht schneller, sondern geht womöglich sogar ein. Wie sind die stärksten Bäume gewachsen?
Wenig überraschend, dass ein Dalai Lama oder Eckhart Tolle zu den Menschen gehört, die sich regelmäßig im Lassen üben – in der Meditation. Sein in seiner passivsten Form. In der Stille sein, die „nur“ empfängt. Werde überhaupt erst einmal so still, dass du etwas reinlassen kannst: LASSEN ist ein Akt, der eine gewisse Kraft zu Beginn benötigt. Die Intention. Und: Dass man sich darauf einlässt. Lassen selbst geht wiederum nur ohne Mühe, ohne Kampf, ohne Anstrengung. Lass. Es. Sein.
Sollen wir jetzt nur noch lassen?
Jein. In dieser polaren Welt brauchen wir ja immer beides. Erst recht, weil sich die westlich orientierte Menschheit in den letzten Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden zu sehr aufs MACHEN gestürzt hat. Jetzt ist es Zeit fürs LASSEN.
Lass die anderen reden. Lass sie tun. Lass es bei ihnen. Lass den Kampf.
Lass es bleiben. Lass es sein.
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Das mag nicht immer und überall funktionieren, da ein beherztes MACHEN natürlich ganz genau ebenso seine Berechtigung hat – aber vergiss die Pausen nicht.
Nur das SEIN LASSEN sein zu lassen solltest du lieber sein lassen.
Kleiner Exkurs & ein praktischer Tipp zum Schluss
LASSEN und WASSER – klingen ganz schön ähnlich! Und tatsächlich gibt das Wasser auch dezent Hinweise, wie das Lassen geht: Es fließt einfach, hält an nichts fest. Wasser kennt zig Zustände und wehrt sich nicht dagegen. Es wird mal zu Dampf, zu Tröpfchen, zu festem Eis. Gegebenenfalls löst es sich schon wieder zum richtigen Zeitpunkt auf und wird wieder Wasser. Und selbst wenn nicht: Auch gut. In der Essenz ist es ja immer dasselbe. Wasser macht kein Bohei um sich selbst. Es IST einfach. Und damit auch so wichtig fürs Leben …
Zudem ist Wasser in jeglicher Form oft ein schönes Mittel, um das reine Lassen einfacher zu machen: Aufs Wasser schauen, schwimmen, in die Badewanne abtauchen, eine heiße Tasse Tee oder eine Wärmflasche …
Wie lässt du am liebsten dein Lassen zu?
2 Kommentare
Hallo Miriam,
ich bin über den Kibbe Artikel rein zufällig auf deine Webseite geraten, fand deine Art zu schreiben sehr inspirierend und habe daher noch ein bisschen gestöbert. Deinen Gedanken in diesem Artikel kann ich gut folgen. Ich habe das LASSEN tatsächlich erst mit zunehmendem Alter gelernt. Ansonsten fällt mir an dieser Stelle noch der Keimzeit Song „So“ ein: „Lass es laufen den Berg hinunter …“
Viele Grüße
Karo
Hallo Karo,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Ja, das LASSEN so richtig akzeptieren und überhaupt erstmal realisieren braucht wohl ein gewisses Alter – vorher geht es meistens mehr ums Machen-Machen-Machen 😉 Keimzeit hat mir bislang überhaupt nichts gesagt. Danke für diese Ergänzung!
Liebe Grüße
Miriam