Die Hafermilch ist aus! Ohne die bekomme ich keinen Kaffee herunter. Das ist kein Zustand für eine, die Blutgruppe Koffein hat! „Du könntest deinen Kaffeekonsum nun endlich überdenken!“, mahnt mich ein Stimmchen. „Du kannst auch einfach zu Edeka gehen und Hafermilch kaufen. Lebensmittel kaufen darf man ja auch zu diesen Zeiten der Ausgangsbeschränkung!“, muckt das andere Stimmchen in mir auf. Ich muss mich nur an all die neuen Regeln halten. Also packe ich Geldbeutel und Rucksack – und gehe das erste mal seit der Ausgangsbeschränkung hinaus.
Bitte halten Sie 1,5 Meter Abstand!
Auf dem Weg durch die fremd gewordene Welt Richtung Supermarkt muss ich mich nicht an die Abstandsregel halten – weil ohnehin so gut wie niemand unterwegs ist. Nur einmal kreuzt mein Weg den einer Gassigängerin. Wir lächeln uns über die ganze Gehwegbreite hin an. Unser Lächeln stört der Abstand nicht.
Im Supermarkt selbst ist gefühlt alles wie immer: Im Eingangsbereich weist ein Schild auf die Abstandsregelung an, im Kassenbereich kennzeichnen Linien auf dem Boden die eineinhalb Meter. Die Regale sind nicht mehr wie zu Beginn der gefühlten Apokalypse leer, es gibt sogar wieder – oh wow! – Toilettenpapier und Knäckebrot. An die Ausnahmesituation erinnert nur die blackmirrormäßige Durchsage übers Radio: „Bitte hal-tennnn Sie ein-ein-halb Meter Ab-stannnd zueinnnnander!“
Manche Miteinkäufer halten sich mit einem freundlichen Lächeln fern; man eiert respektvoll aneinander vorbei. Steht jemand länger vor dem Käsefach herum? Dann suche ich solange eben die anderen Sachen von meiner Einkaufsliste und den Süßkram gibt es wie im echten Leben erst zum Schluss. Man arrangiert sich eben. Irgendwie. Und zugegeben tut mir persönlich dieser extra Platz um mich herum ganz gut: Ich mag es von Haus aus nicht, wenn mir Fremde zu nah auf die Pelle rücken. Jetzt dürfen sie es gar nicht erst, ätsch! Zeit zum Durchatmen! Dafür nehme ich es gerne in Kauf, dass der Einkauf an sich etwas länger dauert.
Etwas Distanz tut mal wieder gut
Wen nervt es bitte nicht, wenn einem der ungeduldige Hintermann den Einkaufswagen in die Hacken rammt? Oder gar: Wenn er damit anfängt, sein Zeug aufzulegen, wenn man selbst noch gar nicht fertig ist?
Wer findet es okay, wenn einem der Sitznachbar in der Tram die Ellbogen in die Flanke donnert? Und wenn er sich noch nicht einmal dafür entschuldigen will?
Wer hat gern den Atem eines Fremden im Nacken, wenn man gemeinsam vorm Bäcker in der Schlange steht?
Selbst wer das alles voll okay findet: Jetzt geht das alles nicht mehr. Und zwar hochoffiziell. Empfindlichere Leute wie ich bekommen nun endlich wortwörtlich den Raum, sich in Ruhe unter Menschen aufhalten zu können. Und die anderen erleben vielleicht zum ersten Mal, dass eine gewisse gelebte Distanz etwas Angenehmes haben kann. Der Raum für sich selbst wird größer.
Jetzt halten sich auch Flegel an Anstand, äh, Abstand
In Deutschland ist die intime Zone 20 bis 60 cm groß, sagt Wikipedia. Für meinen Geschmack dürfte es gerne mehr sein: Wer mir zu nahe rückt, muss damit rechnen, dass ich mich reflexartig zurückziehe, was schon so manche Beinahe-Unfälle und maximale Peinlichkeiten provoziert hat.
Jemandem zu nahe zu rücken hat sonst gewöhnlich diese Ursachen:
- Man meint, man könne es (falsche Einschätzung; bishin zur Übergriffigkeit)
- Man meint, man dürfe es (etwa, weil man im Status über dem anderen steht, vgl. Dominanzgesten)
- Man kapiert es einfach nicht / hat kein Gefühl dafür.
Jetzt darf es selbst die letzte Gruppe lernen, die so klein nicht ist.
Erleichtert stehe bei meinem Einkaufs-Ende endlich an der Kasse, lege in Ruhe meine Einkäufe aufs Band und kann sogar bezahlen, ohne dass mich der Nächste unwirsch anstarrt, warum ich so lange brauche, meine EC-Karte aus dem Geldbeutel zu pfriemeln.
Von Distanz und Vertrauen
Zugegeben habe ich etwas Sorge, dass die physische Distanz nun einen neuen Trend aufbeschwören könnte: Misstrauen gegenüber Anderen. Und dass man unnötig einen auf Distanz macht: Manche Menschen sehen einen jetzt schon an, als wäre man etwas Aussätziges, nur wenn man ihnen auf demselben Gehsteig entgegenläuft. Oder sie sehen stur geradeaus an einem vorbei, frei nach dem Motto: „Seh ich dich nicht, existierst du nicht – steckst du mich nicht an!“
Die weniger mit Angst Behafteten setzen es dafür nun schon zahlreich um: Ein ehrliches, von Herzen kommendes Lächeln, nun mehr als je zuvor. Weil sie sich auch um jeden anderen freuen, den sie sehen. Am Schluss sind wir eben doch nur soziale Wesen, die wenigstens ein bisschen Anschluss spüren wollen, und sei es nur, weil sie sich von einem anderen gesehen und wahrgenommen fühlen wollen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen – und eines meiner Lieblingswesen unsozial!
Wie groß meine Freude ist, als ich auf dem Weg vom Einkaufen zurück den braungetigerten Nachbarskater sehe: Endlich mal wieder eine Katze streicheln! Endlich mal wieder sowas wie Körperkontakt!! Ich gehe hinunter auf den Boden, locke, schnalze mit der Zunge und rufe leise. Eigentlich kommt er immer. Aber nun hält sogar der Kater hält geflissentlich Abstand, sogar weit mehr als die eineinhalb Meter. Mein Lieber, ich glaube, du übertreibst!
Wie geht es nun mit der neuen Distanz nun weiter?
Wie werden wir uns nach Corona verhalten? Wird es überhaupt je ein „danach“ geben, wenn irgendwann ohnehin die Meisten das Virus in sich tragen? Werden wir uns nie wieder die kaputt gewaschenen Hände schütteln, sondern stattdessen die Ellbogen oder Ghettofaust geben? Oh bitte nicht. Da bevorzuge ich lieber die kleine Verbeugung aus dem asiatischen Raum, die hat eindeutig mehr Stil. Auf nichts freue ich mich jedoch wieder mehr als auf eine richtige Umarmung.
Denn es kommt nicht auf die Distanz im Allgemeinen an, sondern auf die richtige Distanz. Und für die gibt es keine Zentimeterangabe.
Titelbild: Photo by Łukasz Łada on Unsplash