Warum ich in der letzten Zeit hier nichts schrieb? Weil ich auf dem Mount Everest war. Um die Welt bin ich gereist. Ich hatte einen Zwilligsbruder, einen phantastischen besten Freund und mit ihnen ein Schloss. Also, unter anderem. Ich fand ein Wort für das letzte Geräusch, das man vor seinem Tode hört – Hatta – und nach vielen Lieben die eine, die mich den Begriff der Einsamkeit, aber auch das Leben selbst neu verstehen ließ.
Manche greifen sich jetzt sicher an die Stirn – „Miriam, was lügst du da zusammen?“ Nichts. Ich war da und hatte das alles. In meinem Kopf. Eine Woche lang hat mir Thomas Glavinic in seinem Roman gezeigt, was „das größere Wunder“ ist. Die letzten Seiten sind inzwischen leider längst umgeblättert, das Buch liegt still und scheinbar harmlos neben dem Bett (tatsächlich bin ich mittlerweile an der „Arbeit der Nacht“). Und während ich Jonas, Werner, Zach und viele weitere lieb gewonnene Personen vermisse, bin ich mir vollkommen darüber im Klaren, dass es jetzt reihenweise Leute gibt, die sich deswegen an die Stirn klopfen: „Das ist doch nur ein Roman!“ Ihr dürft jetzt gerne wegklicken. Staubt doch solange Euer eines Billyregal ab, in dem zur Hälfte alles mögliche Andere außer Büchern steht. Ihr beschimpft uns als „Bücherwürmer“ und „Leseratten“ (gibt ja charmantere Tiere, ne!), werft uns vielleicht Eskapismus und Einzelgängertum vor, weil wir uns „hinter Papier flüchten“, mal abgesehen davon, dass es Zeitverschwendung und reine Faulheit ist. Hm. Ich frage mich dennoch, welcher Aspekt davon ernsthaft schlecht sein sollte und wie man ein Misanthrop sein kann, wenn die meisten – immerhin mir bekannten – Romane ja doch von Menschen, deren Leben und Entwicklung handeln.
Die Frage ist doch einfach: Was macht das Lesen so faszinierend, dass doch immer noch so einige Leute in den Öffentlichen lieber ein Buch mit abgeschlagenen Ecken aus der Tasche ziehen anstatt ihr iPhone; dass bei jedem Umzug mindestens eine halbe Bandscheibe draufgeht, weil die Sammlung ja mit muss und in einem Park immer mindestens (!) einer liegt, der gleich mit der Nase aufs Buch oder mit dem Buch auf die Nase knallt?
Warum gibt so Leseversessene, die ein extra Bücherzimmer haben oder notgedrungen Tetris mit ihrem Billyregal spielen, weil die Wohnung für mehr zu klein ist? Was macht den Reiz vom Lesen aus?
Phantásien? Da war ich schon oft!
Nein, ich war nicht in Nepal (ist aktuell ja leider auch besser so). Aber ich war jetzt mehr da, als jemand, der kein Wort darüber gelesen hat. Ich habe nicht selbst erlebt, was es bedeutet, wenn die Sauerstoffflasche ab einer Höhe von 7 000 Metern plötzlich nicht funktioniert, aber jetzt habe ich die Gewissheit, dass ich das gar nicht erst erleben will. Wer sagt, dass das lediglich Vorgestellte weniger wert als das tatsächlich Erlebte ist?
Was Phantasie mit Zitronen zu tun hat.
Es gibt Theorien, dass es unserem Gehirn herzlich egal ist, ob eine Situation echt ist oder nur erdacht. Was wir uns vorstellen, ist für unsere Hirnkästchen real. Ein kleiner Test: Stell Dir vor, in eine Zitrone zu beißen. Wie Du sie in der Hand hälst, die pralle Frucht, ihre glatte Haut spürst (wir reden immer noch von Zitronen!), ihre Farbe ist strahlend frisch zitronig hellgelbgrün. Wenn sich jetzt nicht mehr Speichel bei Dir bildet, dann hast Du erfolgreich etwas in Dir getötet und wirst dem Mondenkind nie einen neuen Namen geben. Alle anderen merken an dieser Stelle, zu was reine Vorstellungskraft möglich ist: Eine körperliche Reaktion folgt schwuppdiwupp. Wenn auf diese Reaktion unterschiedliche Entspannungs-, Therapie- und Trainingsmethoden setzen, wie könnte es dann bitte sein, dass Lesen keinerlei reale Wirkung hat? Wenn ich beim Lesen lachen oder schniefen muss, warum haben da mein Gehirn bzw. andere Schaltzentralen gerade nicht kapiert, dass das ja alles „nicht real“ ist und sich die physische Reaktion nicht lohnt? IST JA NUR EIN BUCH. DAS ALLES IST NICHT ECHT. Gefühle sind es wohl übrigens auch nicht, oder was? Hallo Architekt, kannst Du uns das mit der Realität bitte nochmal genau erklären?
Du bist mehr als Du. Du bist Atréju. Bastian, harry, Jonas. manchmal auch ein Hobbit.
Eines ist auf jeden Fall bewiesen: Dadurch, dass wir in Romanen derart intensiv, ja schon fast parasitengleich in fremde Köpfe eintauchen können und währenddessen unsere eigenen Gedanken ausschalten (nachdenken und lesen gleichzeitig klappt ja irgendwie nicht so), öffnen sich uns neue Blickwinkel.
Für mein Empfinden sind diese genau so viel wert – wenn nicht sogar manchmal intensiver – als die, die sich aus „echten“ Face-2-Face-Gesprächen ergeben: Egal, wie gut wir die andere Person kennen oder wie gern wir sie haben, unsere Wahrnehmung, die Wortwahl des anderen und die eigene Ablenkungsfreudigkeit und drölfzig andere Faktoren lassen uns doch selten zu 100% verstehen, was im anderen nun wirklich-wirklich-wirklich vorgeht. Wenn er selbst das überhaupt schon weiß. Da sitzt dann vielleicht ein echter Mensch vor einem, aber man denkt sich nur: „Mensch, ich kapier gerade echt nicht, was du meinst.“
In einem Buch geht das alles einfacher und konkreter: Da steht es Schwarz auf Weiß. Von Menschen geschrieben, die die Sache mit Worten richtig gut draufhaben. Natürlich können und sollen wir alles, war wir lesen, in Frage stellen. Aber hier geht es um Romane. Und wenn da steht, dass sich Harry, egal ob Haller oder Potter, grandios fühlt oder XYZ denkt, dann hinterfrage ich das nicht lange, ob er jetzt nur so tut oder das wirklich so ist und wie und überhaupt, sondern nehme das dankbar hin und freue mich zu lesen, woran das liegt und welche Auswirkungen das hat. Unmittelbarer als beim Lesen mitleben geht im echten Leben nur, wer auf dem x-fachen Lotusweg schon weit gekommen ist oder eben ein Bandwurm ist.
Da schimpfen wir uns doch lieber Bücherwürme und fügen unserem kleinen eigenen Mikrokosmos Buch um Buch neue An- und Einsichten hinzu. Alles unüberlegt übernehmen sollten wir natürlich nicht, wenn wir eine Biografie von einem Gestörten oder so lesen. Umfassend betrachtet werden wir Lesenden aber einfach tatsächlich erfahrener in Sachen Menschenkenntnis. Ja, Lesen fördert die Empathie!
Vollkonzentriertunangestrengt. Trotzdem: Augen auf!
Das Wunderbare beim Lesen ist zudem: Obwohl das Gehirn ackert, der Lesende hochkonzentriert in einer anderen Welt versinkt, strengt das Lesen von Romanen nicht in dem Sinne an, dass das Gehirn eine Pause wegen Überlastung anmelden würde. Tatsächlich laufen hier Konzentration und Entspannung parallel, fast schon wie beim Meditieren. Wir lesen uns in den Flow hinein, sind nicht mehr wir selbst, sondern egolose Rezipienten und wundern uns, wenn wir das Buch beiseite legen, dass der Park schon leergefegt ist, es kalt durchs Fenster reinzieht oder was da so verbrannt aus der Küche stinkt.
Trotzdem sollte man aber tatsächlich alle 20 Minuten ein Päuschen einlegen und für 20 Sekunden mindestens 20 Meter in die Ferne schauen – den Augen zuliebe, damit sie nicht im Nahbereich einfrieren (das könnt Ihr Euch auch für die Arbeit am Computer merken).
Bibliophile untereinander, miteinander und so
Eine andere Vielleserin und ich kamen unabhängig voneinander auf die – wie wir finden – absolut gerechtfertigte Theorie, dass, wenn die halbe Welt Harry Potter liest und sich das so intensiv vorstellt, sich das doch in irgendeiner Weise irgendwo materialisiert und es irgendwo tatsächlich einen Potterkosmos gibt. Wir suchen immer noch verzweifelt den Weg dahin und sind auf diesem bestimmt nicht alleine. Natürlich ist das bekloppt. Also höchstwahrscheinlich. Aber … wer weiß schon?
Boah, merkt Ihr was? Lesende sprechen mit anderen Lesenden über Bücher. Und nicht immer in bekloppter Weise. Sie inspirieren sich gegenseitig, leihen sich gegenseitig ihre Bücher aus und flippen aus, wenn sie eine Empfehlung kriegen, die faustaufsaugemäßig passt. So unsozial klingt das alles nicht. Manche scharen sich in Literaturhäusern und das mit so Buchmessen ist ja auch kein urbaner Mythos.
Wegen Lesen nichts gewesen?
Ihr Nicht-Leser da draußen, die Ihr Romane für unnütze Zeitvergeudung haltet und darüber die Nase rümpft: Euch möchte ich mein dickstes Buch hiermit hochoffiziell gegen die Stirn knallen, ich hab nur noch nicht raus, welches das ist. In der Hoffnung, dass von der Druckerschwärze und auch vom Inhalt bei Euch was hängen bleibt. Es kann ja sein, dass ihr mehr erlebt habt, real und offiziell und so. Und ihr haltet Euch vielleicht für bessere Menschenversteher, weil Ihr in der Zeit, in der ich ein Buch gelesen habe, mit acht Leuten gequasselt und danach sieben neue Freunde auf Facebook habt. Und könnt besser flirten. Aber meine Erinnerungen an mein Gelesenes sind genau so bunt wie Eure Erinnerungen an das Erlebte.
Aber Ihr habt Euch eh schon beim Intro ausgeklinkt und deswegen frage ich die anderen Büchernarrischen: Was liebt Ihr am Lesen am meisten, wo lest ihr, wie, was ist Euer Lieblingsbuch und warum? Wer schreibt schön, berührt am meisten? Was ist Eure Lieblingsbuchszenenerinnerung? Und: Kam Eure Eule schon?