Man nehme: Unterkühlte Science-Fiction-Eleganz wie bei „Gattaca“, ein abstrus beeindruckendes Hotel wie bei „Grand Budapest Hotel“, namhafte Darsteller wie Colin Farrell, Rachel Weisz, Ben Wishaw und Léa Seydoux – heraus kommt „The Lobster“. Preisgekrönt und auf der DVD-Hülle beschrieben als „ein authentischer Film, cool, klug und atemberaubend lustig“ (Robbie Collin, The Telegraph). Zwölf Stunden, nachdem ich ihn gesehen und nun endlich einigermaßen verdaut habe – Hummerschalen wiegen eben schwer –, frage ich mich immer noch: Robbie Collin, was hat dich zu dieser Aussage hinreißen lassen?
The Lobster – eine unkonventionelle Liebesgeschichte
Der grobe Inhalt ist schnell ebenso erzählt wie abstrus – hinterfragt bitte kein einziges Element, denn es wird auch nichts davon im Film erklärt: Wir leben in einer Dystopie, in der es verboten ist, Single zu sein. Wer alleine ist, wird aufgegriffen und in ein Ressort verfrachtet. Dort, abgelegen an der Küste und von viel Natur umsäumt, muss sich nun jeder binnen 45 Tage verlieben – sonst wird er in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Protagonist David, gespielt von Colin Farrell, entscheidet sich für den Hummer – daher der Filmtitel.
Der Trailer verschießt leider schon das ganze Feuer. Die 114 Minuten haben überhaupt nicht den Drive, den wir hier zu sehen bekommen. Wie ich das hasse, wenn ein Trailer einen komplett anderen Eindruck vermittelt! Der Film ist extrem langatmig, langsam und ungeheuer still erzählt. So etwas mag ich durchaus – aber hier kollidierten Erwartungshaltung und Realität. Enorm.
Wer in den vollen Filmgenuss kommen will, liest an dieser Stelle nicht weiter. Um den Plot und seine enorme Wirkung zu beschreiben, muss ich hier und da leider ein bisschen was verraten – ohne natürlich das Finale zu spoilern.
Erster Akt: Das Hotel
Die erzwungene Entsingelung betrifft jeden: Es gibt nicht einmal eine Schonfrist für Menschen, deren Partner just verstorben ist – jeder muss sich binnen weniger Wochen verlieben. So auch David, der vor Kurzem von seiner Frau nach 12 Jahren Beziehung verlassen worden ist. Begleitet von einem Hund, seinem Bruder, findet er sich im Hotel in einem Szenario wieder, bei dem man sich nicht sicher ist, was es sein soll: Ein Kurort? Zwangslager, ja, vielleicht sogar Endlager?
Jeder Gast gibt beim Einchecken seine eigenen Sachen ab und erhält Klamotten, Accessoires und sogar ein Parfum vom Hotel. Wir lernen: Einen Partner finden funktioniert wohl im klassischen Anzug und Neckholder-Kleid am besten. Ich frohlocke wenige Sekunden, dass an diesem Ort wohl nur das Innere zählen soll, damit sich die Leute nicht geblendet vom Äußeren verlieben, aber nein: Von Liebe ist dort gar nicht erst die Rede, und das Innere zählt auch nicht sonderlich. Eine Beziehung zu haben, ist vor allem praktisch und macht Sinn. Das spielt die Hotel-Belegschaft in stümperhaften Theatereinlagen vor:
- Ein Mann, der alleine isst, stirbt, weil er sich verschluckt hat VS.
- Ein Mann, der mit seiner Frau isst, überlebt dank ihrer schnellen Rettungsaktion
- Eine Frau, die allein ist, wird vergewaltigt VS.
- Eine Frau, die nicht alleine ist, nicht.
WTF. Das Hotelpublikum applaudiert, nimmt scheinbar ohne zu Hinterfragen das Gezeigte an. Aufbegehren findet im Stillen oder äußerst passiv statt. Suizid ist in dieser Welt die einzige Lösung.
„Ist es einfacher, Gefühle zu unterdrücken, die man hat, als welche vorzuspielen, die man nicht hat?“
___ David
Die Spielregeln: Strenger geht es kaum.
Im Hotel herrschen strenge Reglementierung und Überwachung: Masturbieren ist verboten, dafür sorgt das Hauspersonal für Ersatz. Hält sich jemand nicht an die Regeln, wird er inmitten der Frühstücksrunde bestraft. Wer „The Lobster“ sieht, wird ein paar Tage danach keinen Toast essen wollen.
Wer neu ist im Hotel, hat sich vorzustellen: Was zeichnet ihn am meisten aus? Bei einem ist es das kaputte Bein, bei der anderen das ewige Nasenbluten. Solche Details definieren hier die Menschen – das muss reichen. Pärchen finden nur wegen Gemeinsamkeiten zusammen: Wer kein Nasenbluten hat, sich aber in die knuffige Nasenbluterin verliebt, drischt eben so lange mit den Kopf gegen die nächstgelegene Wand, bis sich ein rotes Rinnsal über sein Hemd ergießt. „Sie haben beide Nasenbluten!“ wird das neue Paar den Tieren in spe freudestrahlend vorgestellt. Das Paar erhält nun ein Doppelzimmer für zwei Wochen und muss danach noch eben so viel Zeit gemeinsam auf einer Yacht durchhalten. Wenn sie durchhalten, dürfen sie als Paar zurück ins Leben, „in die Stadt“. Beim ersten Streit werden ihnen Kinder an die Hand gegeben. Kinder kitten alles.
Kinder kommen schnell in Einsatz.
Kurz vor dem Ende seiner Frist beschließt David, eine Beziehung radikal vorzutäuschen. Ihm kommt in den Sinn, dass es einfacher wäre, vorhandene Gefühle zu unterdrücken, als nicht vorhandene vorzuspielen. Deswegen lässt er sich auf „die Frau ohne Gefühle ein“, ein eiskaltes Biest. David macht das erstaunlich gut. Gut gehen kann das aber natürlich nicht lange.
Zweiter Akt: Der Wald
Wer Beziehungen vortäuscht, muss mit der höchsten Strafe rechnen – David flüchtet und findet sich im Wald bei den Einzelgängern wieder: Abtrünnige, Geflüchtete, die das Gegenkonzept leben. Hier darf sich keiner verlieben. Tut es jemand doch, wird er von der Anführerin, einer Französin mit fieser Aura (Léa Seydoux) bestraft. Küssen sich welche, riskieren sie „rote Lippen“ – mit einem Rasiermesser werden diese aufgeschlitzt. Die logische Steigerung: Roter Geschlechtsakt. Wir schalten in diesem Moment sofort sämtliches Vorstellungsvermögen aus.
Auf diese Einzelgänger unternehmen die Hotel-Insassen allabendlich Jagd: Wer einen abknallt (mit einem Betäubungsgewehr immerhin), erhält einen Tag Aufschub im Ressort.
Natürlich passiert das Unvermeidliche: Der bebrillte David verliebt sich im Wald in die namenlose Kurzsichtige: Rachel Weisz. (Wie) können sie sich nun lieben in einer Umgebung, die Liebe verbietet?
Dieser Film tut so, so so so weh, dass er einen Warn-Aufkleber bräuchte
Regisseur Giorgos Lanthimos überspitzt in diesem „neuen griechischen Kino“ unsere gesellschaftlichen Zustände und Normen auf eigenwillige Art und Weise so sehr, dass es weh tut. Was bei uns hinter vorgehaltener Hand geflüstert wird, Ängste, die sich Singles – aber auch Vergebene! – stellen müssen, werden hier schonungslos multipliziert.
Dabei setzt er diese Kritik hoch ästhetisch und poetisch um. Stilvoll, elegant und ungeheuer plakativ drischt er dem Zuschauer ins Gesicht: Singles sind nichts wert, bämm! Alles muss kontrolliert werden, bämm! Hinterfrage nichts, bämm, bämm, bämm! Wo bleibt da die Menschlichkeit, die Individualität, das Streben nach Glück? Bämm. Bämm. Bämm. Bämm. Bämm …
Lanthimos übt harte Kritik an unserer Gesellschaft, in der die Frage nach dem und Definition durch den Beziehungsstatus omnipräsent ist. In seinem Film peitscht er unsere Vorstellungen und Ansprüche in ein abstruses Maximum: Unwesentliche Details zählen – Hallo, ich bin die Kurzsichtige! Mehr muss man über die Person nicht sagen. Und natürlich führt „The Lobster“ aufs allerschmerzlichste vor Augen (hrrrr hrrrrr), wie groß unser Wahn auf der Suche nach einem möglichst ähnlichen Partner ist. Gleiches zu Gleichem.
Lieber nicht.
„Mein Mann ist Zahnarzt. Er zwingt mich nach jedem Essen, Zahnseide zu benutzen. Ich halte es nicht mehr aus. – Ich habe ihn umgebracht.“
___ Das Zimmermädchen, das ihren Po an Gästen rubbelt
Wie viel der Einzelne wert ist, zeigt sich im Film schon daran, dass kaum Namen erwähnt werden, sondern nur Attribute – die Kurzsichtige, der Mann mit dem Gehfehler – und alle die gleichen Klamotten tragen. Begeben sich die Einzelgänger – natürlich in Tarnung – in die Stadt, bekommen wir ein krasses Bild gezeigt: Es existieren nur noch symbiotische Paar-Beziehungen, in denen einer eine unglücklichere Fresse als der andere zieht. Wird jemand alleine aufgegriffen, steht er sofort unter Generalverdacht, ein Einzelgänger zu sein.
Warum das so ist, ob die Menschheit vorm Aussterben bedroht ist und deswegen Single-Sein sanktioniert wird, wird nie erklärt. Glücklich sieht in dieser grauen Welt – tatsächlich die Sättigung in diesem Film extrem heruntergefahren – niemand aus. Um dieses Emotionslose noch zu steigern, ist die Erzählweise so. Unendlich. Lang. Sam.
Das Mienenspiel ist auf ein Minimum reduziert, die Dialoge ebenso. Emotionen kochen im Zuschauer dennoch hoch: Bei mir war es die Wut, warum die alle so dermaßen bescheuert sind, am Schluss lastete etwas Schweres auf meiner Brust. Die Popcorn-Schüssel kann es nicht gewesen sein, weil die da längst leergefuttert war.
In diesem Film wird nichts in Frage gestellt, der Ist-Zustand bedingungslos akzeptiert und kaum rebelliert. Die Rebellen im Wald sind nur ein invertiertes Spiegelbild des Lebens im Hotel und genau so blöd und borniert. „The Lobster“ ist vor allem eines – ohne Ausweg. Es sei denn, man wollte schon mal immer ein Tier sein.
Ist „The Lobster“ nun empfehlenswert?
Schon die Kritiken bei Amazon machen klar: Man kann diesen Film nur hassen oder lieben. Müsste ich Sternchen vergeben, wären es 4/5. Ich will diesen Film so bald nicht wieder sehen. Dennoch würde ich ihn uneingeschränkt weiterempfehlen. Einziger Hinweis: Schaut ihn Euch lieber an, wenn ihr in psychisch guter Verfassung seid.
„The Lobster“ ist natürlich extrem Independent und ich verstehe nun, warum er in Augsburgs Kinos nur wenige Wochen lief: Spaß macht er definitiv nicht. Er geht an die Substanz. Aber eben genau das macht zusammen mit der geschmackvollen Ausstattung, großartigen Bildern und ruhigen Kamera und Erzählstil seinen Reiz aus. Der Soundtrack wird auch gerne in den Kritiken gelobt – er fügt sich perfekt ins Gesamtbild. Ich kann nachträglich nicht sagen, welche Musik es war – klassische überwiegend wohl. Sie hat den Film perfekt unterstützt und getragen.
Chapeau an fast alle Darsteller & die Ausstattung!
Die schauspielerische Leistung aller Einzelnen war fast durchweg überzeugend. Besonders herausgestochen ist Léa Seydoux als charismatische Rudelsführerin, die jedem Angst einjagt, obwohl sie kleiner und zierlicher als jeder andere im Wald ist. Warum musste ich bei ihr immer an Dogen aus Lost denken? Colin Farrell, hier mal mit ordentlich Wampe, Doppelkinn und stattlichen Schnurrbart, blickt uns aus sinnentleerten Augen an. Rachel Weisz schwächelte leider: Kaum Neues zu sehen. Hätte man die Rolle der Kurzsichtigen anders besetzt, wäre es egal gewesen.
Überraschend und großartig dafür Ariane Labed als undurchsichtiges, knallhartes Zimmermädchen und Aggeliki Papoulia als Frau ohne Gefühle. Einige der besten Szenen verdanken wir den beiden.
Die eingangs erwähnte Kritik von Robbie Collin kann ich allerdings nicht nachvollziehen:
- Authentisch.
Wenn DAS authentisch ist, springe ich aus dem Fenster. Er spiegelt unsere Gesellschaft überspitzt wider, ok. Aber ist das gleichbedeutend mit Authentizität? Ich hoffe doch nicht. - Cool.
Ja, das ist „The Lobster“ mit seiner unterkühlten Ästhetik. Aber er ist nicht lebowski-cool. Er hat absolut nichts lässiges. Und cool ohne Herz tut weh. - Klug.
Hier widerspreche ich nicht. „The Lobster“ ist ein intelligenter Film, dadurch aber auch enorm kopflastig. - Atemberaubend lustig.
Robbie, haben wir denselben Film gesehen? Ich habe vor Entsetzen ein paar mal aufgelacht, ja. Es sind schon viele absurd-komische Situationen dabei, die mich übersprunghaft lachen ließen: Wenn plötzlich ein Flamingo durch den Wald Typ gemäßigte Klimazone/Großbritannien stolziert. Also liebe Leute, aufgepasst, in welches Tier Ihr Euch verwandeln lassen wollt! Wer ein Fisch sein will, wird eventuell im geheimnisvollen Umwandle-Raum einfach im Trockenen liegen gelassen.
Oder als David zur blonden Frau sagt, sie habe aber schönes Haar – und sie nur „ich weiß“ und dann schüttelt sie es vor ihm wie zum Beweis in alle Richtungen. Einen Tag vor der Verwandlung führt man sich wohl so auf.
Aber all das entspricht nicht meiner Definition von „lustig“. Nennen wir es lieber komisch.
Oder streichen wir es komplett und sagen einfach nur atemberaubend. Das passt.
Die Fragen, die ich mir nun stelle:
Warum hinterfragen die nichts, aber auch so gar nichts, und schlucken alles? Klaro, um uns vor Augen zu führen, dass wir es meistens auch viel zu wenig machen. Da packt uns „The Lobster“ gut an der Nase.
Sind Rebellen nicht da, um gegen bestehende Institutionen aufzubegehren? Warum sind die genau so eingeschränkt in ihren Ansichten?
Die Intro-Szene, was sollte die? Uns auf das langsame Tempo einstimmen?
Was ist das Tier, das keiner sein will?
Und natürlich: Welches Tier möchte ich sein? Die Antwort darauf habe ich sogar gefunden, weil man auf der Film-Seite den Test dazu machen kann. So überraschend kommt das Ergebnis nun nicht, stimmt mich aber ganz froh. Ich meine: Ist es nicht besser, wenn ich nicht gleich direkt eine Katze wäre anstatt nur eine Crazy Cat Lady? Aber über diesen Verwandlungsprozess reden wir dann bitte nochmal. Den würde ich lieber auf Hogwarts vornehmen lassen.