Nehmen wir mal an, es gäbe eine Fee, die freundlich zu uns angeflattert kommt und verspricht, uns drei Wünsche zu erfüllen. Wären wir musikalisch interessiert, lauteten unsere Wünsche vielleicht: „Ich möchte grandios singen und zwei Instrumente beherrschen können.“ Natürlich ist das reine Phantasterei. Im Falle eines ganz besonderen Herrn ist es ganz besonders phantastisch, weil ihm eine vorwitzige Fee gleich mehrere Dutzend Wünsche erfüllt haben muss. Lasst uns an die Fee glauben, das ist einfacher – sonst müsst Ihr gleich akzeptieren, dass es rein menschliches Talent ist, dass einer alleine derartig grandiose Musik machen kann (nein, das im Video ist kein Drilling, das ist alles einer):
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Nicolas Chapel – ein Mann, eine Band: Demians
Der Franzose Nicolas Chapel hat als „Demians“ bereits drei Alben (Building an Empire – 2008; Mute – 2010; Mercury – 2014) fast komplett in Eigenregie aufgenommen und produziert. Für Live-Auftritte braucht er natürlich ein paar Leute, die die anderen Instrumente übernehmen – wie gut das funktioniert, dazu später mehr.
Nicolas geht es um die Musik als solche – dass sie aus ihm heraus kann. Inspirieren lässt er sich vom Leben selbst. Deswegen ist seine Musik voller Gefühl und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Harmonie und Härte, Zartem und Lautem. Die bindende Klammer: Ein Hauch hoffnungsvolle Melancholie. Gleichzeitig beweist er enormes Facettenreichtum und spielt alle Instrumente selbst: Gitarre, Bass, Schlagzeug, Piano, Cello und Exoten wie Dilruba, Lamellophon (Kalimba), Sarangi und Sitar. Für sein Debüt-Album – produziert im eigenen Schlafzimmer – verwendete er allerdings noch Samples und schichtete die Klanglagen raffiniert übereinander. Es entstand ein musikalisches Mille Feuilles, wie beim 9:19-langen Intro „The Perfect Symmetry“: Atmosphärisch startet es, bittersüß und zart. Man könnte sich einlullen lassen. Könnte. Aber hier ist eben nichts harmlos-harmonisch – immer wieder taucht etwas aus dem Nichts auf, das schönes Seelenaua macht – eine Dissonanz, ein Taktwechsel oder plötzlich deutlich härterer Griffe in die Saiten. Das alles fügt sich nahtlos ineinander, begleitet von Nicolas’ luftiger Stimme, die mal beschwichtigt, erzählt, anklagt, fast schreit. Vertontes Leben eben. Licht geht nicht ohne Schatten; auf und ab geht es.
Es kommt nicht von ungefähr, dass der Name „Demians“ auf den Roman von Hermann Hesse zurückgeht: Nicolas verliebte sich bereits als Kind in das Buch. Was ich durchaus nachvollziehen kann, da ich dieses Buch ebenfalls zu meiner persönlichen Bibel erklärt habe, wenngleich auch deutlich später. Jetzt wäre es interessant zu wissen: Mögen die, die Demian gemocht haben, automatisch Demians? Sollten all die, die Demians mögen, unbedingt Demian lesen – und finden sie sich dann da auch wieder? Demians- und Demian-Liebende, lasst es mich wissen!
Wie bekommt nun jemand alleine so komplexe Musik hin? Nicolas hat Zeit – Zeit, zu experimentieren; Zeit, seinen eigenen Sound zu finden. Keine Bandmitglieder, keine Kompromisse, Antworten ist er nur sich selbst schuldig. Max Demian lässt grüßen.
In seinem zweiten Album „Mute“ finden statt Samples nur noch eigenhändig gespielte Instrumente ihren Einsatz. Die einzelnen Passagen hat Nicolas maximal zweimal eingespielt, weil er das Rohe und Unperfekte festhalten wollte. Klingt das weniger perfekt? Nein. Eher noch schöner, weil es jetzt noch mehr Charakter und Tiefe hat, ohne den Erstling ad Absurdum zu führen. Sie ergänzen sich wie Ebbe und Flut – mit solchen Naturphänomenen scheint es Herr Chapel ohnehin zu haben, hört man genauer bei dem aktuell noch aktuellsten Album Mercury hin.
Mercury – das Album von 2014
Stellen wir uns als Szenario für Mercury eine Spelunke tief im Nirgendwo vor. Genau dahin entführt uns Nicolas:
why can’t we live the life we used to live
before we followed them in the deepest valley
out of the faith we keep
now we’re two wounded sharks
sinking like bait in a mercury sea
children and soldiers, rattling bones
weak and ignorant, youth i suppose is a treasure spent
Wir halten etwas dunkelgelb Schimmerndes in einem nicht ganz so taufrisch glänzenden Glas in der Hand; es riecht nach nassem Holz, Fell und Leder. Nicolas sitzt in der Ecke, schwach beleuchtet, und beginnt den ersten Song „Mercury“ mit erdigen Trommeln. Als seine raue Stimme einsetzt, ist man kurz versucht zu fragen, ob das wirklich immer noch Nicolas ist. Aber, ja, klar, er ist es, nur eben die reifere Version von sich selbst.
Rauchschwaden vernebeln die Sicht – in unserer Klangwelt gibt es kein Rauchverbot –, draußen senkt sich der Nebel tief über die Felder, der Wald verschwindet unter dem Weichzeichner. Bei „White Chalk“ lösen tobende Gitarren eine wacklige Kinderspieluhr ab. Wir bekommen Gänsehaut. Das ganze Album mutet häufig wie ein alter, stilvoller Horrorfilm an; wir werden mit Schmerz und inneren Monstern konfrontiert. Gleichzeitig strömt uns Nicolas aber das Vertrauen ein, dass das Ende ein Gutes sein wird. Dieses Hoffnungsvolle finden wir immer wieder. Auch wenn einige Songs traurig sind – sie lassen uns nicht traurig und allein zurück.
Wir philosophieren zweisilbig mit unserem Nebenan an der Bar, werden etwas müde, mümmeln uns in unser Fell auf dem Sitz ein. Es ist kalt. Selbst die Fee, die bei Klein-Nicolas so überaus großzügig war, bibbert. Bei „Pearls on a Strand“ zucken wir kurz auf, weil wir den Geist von Elliot Smith anwesend wähnen. Der Regen tropft weiter, wir blicken durch die dreckigen Fenster in ein Unterwasserszenario: „Water and Sigh“ blubbert sachte an uns heran, schwappt wieder weg. Ebbe und Flut, es geht kaum ursprünglicher. Wir treiben weg und Nicolas’ Worte begleitet uns:
„ you’re drifting away with the tide | you know it’s all in the heart | disappearing in water and a sigh“.
Wie schön. Seufz. Ein Raubauke schnaubt nun vielleicht verächtlich, möchte seine dicken, schwarz verfärbten Lippen zu einem „Kitsch“ formen. Dann stimmt Nicolas aber vielleicht „A Spark Before The Sun“ an. Der Rabauke schaut anerkennend, er mag dieses neue Kratzige in den tieferen Stimmlagen von Nicolas wohl auch. Spätestens bei „Little Invisible“ sind alle überzeugt: Wer 2014 so cool und sexy Blues interpretiert, und das noch dazu zweistimmig mit sich selbst, der darf in unserer Spelunke spielen und nie damit aufhören!
https://soundcloud.com/demiansmusic/little-invisible
Der Abschluss? „Swan Song“. Wer das hören kann, ohne an eine scheußlich-schaurig-schöne Abschluss-Szene in einem Horrorfilm zu denken, in der der Protagonist all seine Lieben verloren hat und nun alleine aus dem Grusel-Szenario entflieht, der hebe als erster sein Glas. Natürlich gibt es auf Mercury viele andere geniale Songs, aber alle zehn ausführlich beschreiben, das machen Leute in Spelunken nicht.
Demians on stage?
Und: Ausblick
Für Live-Auftritte gibt Nicolas den Part von Gitarre, Bass und Schlagzeug auf der Bühne ab – geht ja schlecht anders. Aber nur, wenn es dann auch exakt so klingt wie auf dem Album. Das könnte man jetzt als egoistisch bezeichnen, dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Herr Chapel will kein Musiker-Ego die Musik dominieren lassen. Auch sein eigenes nicht. Das Vertrauen und – zumindest zeitweise – eine Einheit war endlich mit Antoine Pohu, Fred Mariolle und Gaël Hallier gefunden. Demians tourten 2009 durch Europa, unter anderem als Vorband für Porcupine Tree.
Nun hat Nicolas auf Facebook am 16. September 2015 sein neues Album „Battles“ angekündigt. Ab dem 12. November kann es vorbestellt werden. Werden soll es:
„very intense, focused and dynamic“ (Quelle).
Ich bin schon gespannt, welchen (inneren) Kämpfen sich Nicolas auf Battles stellt. Ein allererster Einblick bei Vimeo verspricht schon mal Gutes – wir rüsten uns in der Spelunke bereits mit dickeren Fellen, Whisky und Ingwertee und warten voller Vorfreude.
Alle Infos kompakt & gebündelt:
Offizielle Seite von Demians (inklusive Shop)
Demians auf FB
Demians auf Soundcloud
Portrait auf Laut.de