Es gibt Dinge, die beherrschen das Stadtbild so sehr, dass man sie irgendwann gar nicht mehr wahrnimmt. Bis sie dann auf einmal weg sind. Und dann vermisst man sie. Das sind zum Beispiel große Schultertaschen, die auf einmal von lächerlich kleinen, schwedischen Kinderrucksäcken abgelöst werden. Aber auch auf den Köpfen hat sich so einiges geändert in Augsburg: Auf einmal dominieren halb ausrasierte Schädel, totgeplättete lange Haare mit letzten fünfzehn noch töteren Zentimetern oder 40er-Jahre-anmutend-komische Schnitte auf Männerköpfen – sofern sie nicht gleich tabula rasa gemacht und alles abrasiert haben – die Frisurenkulisse. Die omnipräsenten Bloggerdutts, seit drei, vier Jahren auch in Augsburg bei fast jedem zweiten Mädel fest auf den Kopf getackert, mittlerweile auch bei jedem dritten Kerl, wollen einfach nicht weichen. Und ich blicke von Schopf zu Kopf wie bei einem Suchspiel und frage mich: Wo ist er nur hin, der Augsburger Seitenscheitel? Der war doch mal das gar nicht so geheime Erkennungszeichen hier: Für uns Augsburger Studenten, vielleicht ein bisschen mehr für die Kommunikationsdesigner.
Auxburgs Frisuren früher: ziemlich einseitig
Als ich 2002 zu studieren begann, trugen wir Seite. Und zwar tief. Wenn ein Friseur fragte, wo er den Scheitel legen soll, und als den dafür „perfekten“ Punkt den höchsten der Augenbraue nannte, riefen wir damals entsetzt: „Nein, tiefer, viel tiefer!“ Also ohrwärts. Und nein, diese Seite war dann nicht gekürzt auf die Länge eines Rattenfells, sondern wurde lässig hinters Ohr gestrichen. Mädchen mit glatten wie lockigen Haaren trugen das Ganze offen, mit Pferdeschwanz oder verwuscheltem Dutt, eher tief gebunden, und Jungs hatten insgesamt deutlich länger als kurze Haare, die dann einfach machen durften, was sie wollten. Zum Beispiel sich in Kapuzen reinkringeln. Seufz.
Dieser Scheitel war extrem – und extrem praktisch. Augenringe, die im Lauf des Studiums über kurz oder lang (nun ja, tatsächlich schon eher über sehr, sehr kurz) kamen, konnte man perfekt darunter verstecken, ganz ohne sich zwanzig Gramm Abdeckstift unter jedes Auge klatschen zu müssen. Wollte man eine Vorlesung verschlafen oder soziale Interaktion vermeiden, legte man den Kopf mit einer weitaus lässigeren Bewegung als dem spastischen Bieber-Zucken in Scheitelrichtung, die breite Ponypartie rutschte weich übers halbe Gesicht und die Augen. Hallo, ich bin dann mal nicht da.
Style macht Style?
Auch klamottentechnisch gab es ein ähnliches Styling für alle: Hüftige Jeans, nicht zu weit, nicht zu eng, nette Ledergürtel und Shirts, die nicht sackartig waren, aber auch nicht knatscheng. Mit Drucken drauf, irgendwo zwischen peinlichen 90er-Jahren-Sprüchen und dem pathetischen Scheiß von heute. Sneakers, Chucks, beides gut abgelatscht, Flipflops. Gab es bei der Kleidung noch einen gewissen Spielraum für Variationen (Kaputzenpulli! Longsleeve! Jeansmini!), war ein Accessoire jedoch unverzichtbar. Höchstwahrscheinlich haben wir überhaupt erst diesem zu verdanken, dass der Augsburger Seitenscheitel zustande kam, allein aufgrund physiskalischer Kräfte: Eine gut befüllbare und befüllte, den Oberkörper und damit auch Kopf leicht in Schieflage versetzende Schultertasche, quer getragen. Für Menschen mit Brüsten war das nicht immer einfach zu koordinieren, aber auf nur eine Schulter gehängt wäre man ja umgekippt, sofern man keine 50×70-Mappe zum Ausbalancieren dabei hatte. Wir brauchten eben jede Menge Zeug im Studium: Zeichenkram, Papier, Bücher, Laptop, Kamera, Handy, Geldbeutel, Wasserflasche, was zum Essen. Mindestens. Jemanden mit einem Fjällräven Kånken hätten wir übelst ausgelacht. Was passt da bitte schon rein? Ein A5-Heftchen, Bleistift, ein Corny und mit etwas Glück noch eine Caprisonne. ( Und nein, damit will ich nicht gegen den Kånken schimpfen, ich finde diesen Rucksack überaus hübsch, vor allem in Türkis, und weil ein Fuchs drauf ist. Aber das Ding ist einfach viel zu klein, übelst überteuert und sieht an Menschen über einmeterfünfunddreißig ziemlich deplatziert aus. Minimalismus hin oder her.)
Zurück zum Seitenscheitel. Das Wunderbare an ihm war die Voraussetzung, die man dafür brauchte: Volles Haar, wuschlig, nicht zu kurz. (Und in diesem Moment sitze ich hier und strecke alle zehn Finger eintauch- und kraulbereit von mir.) Bei dünnen oder zu kurzen Haaren blieb die dickere Seitenscheitelseite nicht da, wo sie sein sollte. Mogeln mit zwei Tonnen Haarspray oder Haarklammern war ja nicht erlaubt. Das musste schon so nach „I woke up like this“ aussehen (das hieß 2002 einfach noch „out of bed“).
Die schlechten Scheitel-Seiten
Ja, manchmal machten wir uns auch über den Augsburger Seitenscheitel lustig. So wie heute über Hipster. Allerdings war es da schon nach einem Nebensatz mit dem Lästern vorbei, weil es darüber nicht viel zu sagen gab. Die Angriffsfläche war, trotz der dicken Scheitelseite, relativ gering. Weil das einfach sympathisch aussah. Und ein Statement war: Ich bin lässig, ich scheiß mir nix, ich lass das jetzt so, und wenn ich kein Bock drauf hab, ist es auch okay. Irgendwann wurde das dann von irgendwelchen, die es falsch oder zumindest anders verstanden, extremer umgesetzt mit schwarz gefärbten Haaren und mit Haarspray festzementiert: Die Emos waren geboren. Übrig gebliebene Augsburger Seitenscheitelträger schmunzelten über die Sternchen-Haarklammern, Streifen-Stulpen und ewig leidenden Gesichtsausdrücke. Bis ich irgendwann alleine da stand mit meinem verwurstelten Seitenscheitel und das Lachen mir im Halse stecken blieb, weil keiner mehr zum Mitlachen da war. Die waren alle weggezogen oder hatten sich ihren Scheitel weggekämmt oder gar abrasiert. Und dann waren mit einem Schlag auch die Emos weg und der Kö erschien um die Mittagszeit auf einmal nur noch halb so dunkel.
Scheitel strikes back 2015!
Und nun? Lasse ich trotzdem meinen Scheitel morgens immer noch auf einer Seite, weil die Haare das einfach so wollen, auch wenn nicht mehr ganz so tief wie früher. Sie sind wohl auch ein bisschen erwachsener geworden. Und ich suche im Stadtbild unter den wohl aufgetürmten, eiskugeldicken, aber scheitellosen Bloggerdutts und Sidecuts nach einer verräterischen Linie, die verrät: Hier war er mal. Der Augsburger Seitenscheitel. Dem Trend zu Opfer geworden. Aber ganz wegkämmen lässt er sich eben nie und irgendwann, irgendwann, wenn die Leute wieder Hüfthosen mit etwas weiterem Bein und nur noch semi-doofe T-Shirts anziehen und normal große Taschen tragen, dann schütteln sie morgens ihr Haar ganz locker und ihre Haare fallen wieder da hin, wo sie hinwollen: Hübsch auf die Seite. Bestenfalls fallen sie über die Seite rüber, wo mittlerweile die ersten grauen Haare sind.
PS: Lust auf mehr Mode-Artikel von mehr Bloggern? Im alphabetischen Schreibprojekt „Kleider machen Leute von A–Z“ findet Ihr noch mehr rund um alle möglichen Lieblingsklamotten. Mein Comeback der Schlaghosen-Artikel befindet sich dort auch.